Das Stuttgarter Ballett gastiert mit „Pure Bliss“ in Berlin
Fotos © Yan Revazov
Berlin ist nicht gerade verwöhnt mit Gastspielen, internationalen schon gar nicht. Da wird selbst ein Dreiteiler aus Stuttgart zum Ereignis. Und ein Ereignis war es dann wirklich. Schon der ungewöhnlichen Spielstätte wegen: auf der allseits einsehbaren Arena-Bühne im spitzgiebeligen Tempodrom. Ausgesprochen gut hat sich die Kompanie auf diese Szenensituation eingestellt und zwei der drei Choreografien über die riesige offene Weite gestreckt, was die Aussagen noch mehr ins Raumlose gehoben hat, als es eine Guckkastenbühne vermag. Dass der zweieinhalbstündige Abend aus der Hand eines einzigen Choreografen stammt, ließ ihn zu einer Art Werkschau des Schweden Johan Inger werden, der damit so etwas wie sein Berlin-Debüt gab – und was für eines!
Bekannt ist er eher für sinfonischen Kammertanz in der Nachfolge jener niederländischen Meister wie Jiří Kylián, bei dem er lange Tänzer war. „Bliss“, das Eröffnungsstück, 2016 mit dem Aterballetto uraufgeführt, bedeutet nicht nur Glück, sondern vermittelt es dem Zusehenden auch. Zu Teilen von Keith Jarretts legendärem, inzwischen gern getanztem „Köln Concert“ verstricken sich je acht Frauen und Männer in fragmentarische Begegnungen, wie sie das Leben bietet, tasten nacheinander, taxieren, schürfen, flirten, bleiben unentschlossen, suchen gleichsam auch nach sich selbst. Die Musik mit ihren improvisierten Aufwallungen schaukelt die wechselnden Beziehungen hoch und lässt ebenso Raum für intime Momente. Es ist ein wunderbares Pulsen und Fluten von Bewegung, so leicht und flink, als wäre sie im Augenblick erfunden. Am Ende stieben die Akteure nach allen Seiten auseinander, lediglich ein Mann tanzt für sich unverdrossen im zentralen Lichtkreis weiter.
Geballtes Leben offeriert auch der Mittelteil des Programms. „Out of Breath“ steht indes für den anderen Pol dieses Lebens: die atemlose Hetzjagd nach dem Warum und dem Danach. Einziges Requisit ist eine geschwungene „Sprungschanze“, die zu erklimmen Ziel aller zu sein scheint. Teils wie wilde Tiere springen die individualisierten je drei Tänzerinnen und Tänzer gegen die Wand an, als wollten sie einen gläsernen Wall überwinden. Wieder ereignet sich Aktion flächendeckend, doch diesmal attackieren sich die Menschen, kämpfen, stürzen, rollen und toben taumelnd zwischen Aufbegehren und Verzweiflung. Selbst eine Geburt scheint am Fuß der „Schanze“ stattzufinden. Zum Schluss gelingt es einer Frau, der Mauer aufzusitzen: Fragend, auffordernd, ratlos oder was immer blickt sie ihrem jenseits verbleibenden Partner nach. Mitreißend ganzkörperlich inszeniert Johan Inger seine Interpreten und weist sich damit ein weiteres Mal als einer der talentvollsten, tiefgängigsten Choreografen seiner Generation aus. Zu Hilfe kommt ihm bei seiner dunkeltönigen, bereits 2002 mit dem NDT II kreierten Recherche wohl auch nach den letzten Dingen die gewählte Musik: äußerst virtuose Streicherkompositionen von Jacob Ter Veldhuis und Félix Lajkó, hier live gespielt und mit dem Stuttgarter Gast Sebastian Klein als furiosem Violinsolisten.
Fotos aus “Aurora’s Nap”
Ch. Johan Inger
Dass es im Ballett zumindest der klassischen Prägung wenig zu lachen gibt, hat nicht nur Johan Inger bemerkt. Er aber wollte dem abhelfen und hat daher als Premiere dem Stuttgarter Ensemble eine neue „Dornröschen“-Version verordnet. Auf rund 50 Minuten wurde hierfür Tschaikowskis mehr als dreistündige Partitur geschrumpft und auch inhaltlich verknappt. „Aurora’s Nap“ setzt titelgemäß das Nickerchen des gesamten Hofstaats wirksam in Szene und lässt sogar die Schlosstürme „schlafend“ wegsinken. Reichlich aufgetuffte Schranzen zelebrieren zuvor in der Burg amüsant die bekannte Geschichte um die Geburt des Prinzesschens. Das ist hier sichtbar eine Puppe mit Kreischfaktor und Anlass für Groteskes im Stummfilm-Stil, mit Slapstick und viel Pantomime. Die drei Feen sind uneins, die vier Prinzen im Rosen-Adagio albern eitle Deppen. Im letzten Akte schließlich rollert Desiré aus dem Heute ins Schlafreich und erweckt die schlummernde Schöne mit einem Endlos-Kuss hinein in seine Welt. Die Türme richten sich wieder auf, eine Diskokugel flimmert, Papierschlangen zischen durch die Luft, derweil die Liebenden in fleischfarbenem Slip, sie freilich mit Oberteil, zu blecherner Einspielung den Grand pas de deux turnen. Dann trennen sich zeitgemäß ihre Wege.
Mit Friedemann Vogel als Prinz, Elisa Badenes als Aurora, Agnes Su als Fliederfee, Anna Osadcenko als Carabosse ist die Stuttgarter Tanzelite dieser Klamotte einverleibt. Was witzig beginnt, wird bald zur zerfasernden Spaß-Tortur. Wer’s mag. Das live begleitende Orchester der Deutschen Oper Berlin war jedenfalls um dieses Tschaikowski-Potpourri nicht zu beneiden. Bestechend den ganzen Abend über das Stuttgarter Ballett in seiner unangestrengten Plastizität. Und Johan Ingers Ausflug ins Handlungsballett dürfte mit „Aurora’s Nap“ wohl noch nicht seinen Gipfel erreicht haben.
Volkmar Draeger