Marcelo Marchado
Kritiken

Bruckner ohne Gnadenschuss

Neues aus Brasilien beim Gastspiel der São Paulo Companhia de Dança •

von Angela Reinhardt

Nachdem Direktorin Inês Bogéa anfangs, kurz nach der Gründung ihrer Kompanie im Jahr 2008, noch die Choreografen aus Europa oder Nordamerika in Brasilien bekannt machen wollte, fördert die São Paulo Companhia de Dança inzwischen immer mehr den landeseigenen Nachwuchs. Tanzschöpfer aus Brasilien arbeiteten bisher eher im zeitgenössischen Bereich, an diesem Abend aber überraschte die Stilvielfalt und Fusion zwischen Neoklassik, brasilianisch-folkloristischen Schwingungen und einer freien Moderne. Die Tänzer aus São Paulo sind gern gesehene Gäste in der Tanzreihe des Forums am Schlosspark in Ludwigsburg, von den jungen Wilden hat sich das rein brasilianische Ensemble inzwischen in starke, eigenwillige Persönlichkeiten mit nach wie vor virtuoser Technik verwandelt. Beim diesjährigen Besuch brachte das Ensemble drei neue Stücke mit.

Brandneu ist “The Eighth”, die Neukreation wurde erst Mitte April in Linz uraufgeführt, als Auftragswerk der Bruckner-Stadt zum 200. Geburtstag des Komponisten. Der australische Choreograf und Tanzforscher Stephen Shropshire hatte dafür eine sehr merkwürdige Idee: Zum groß besetzten, auftrumpfenden Finale von Bruckners Achter Sinfonie inszeniert er einen Tanzmarathon. Alle paar Minuten gibt eines der sechs Paare in schwarzglitzernder Turnierkleidung ermattet auf und sortiert sich quasi hinter die Tanzfläche aus. Sydney Pollack hat einst einen Film über solche Tanzmarathons gedreht, er trägt den schönen Titel „Nur Pferden gibt man den Gnadenschuss“. Shropshires Choreografie ist dabei stark vom Gesellschaftstanz und seinen Paarhaltungen beeinflusst, zwischendurch gibt es sogar Hebungen aus dem Rock’n‘Roll – wobei man in Ludwigsburg, wo man sich mit einer ehemaligen Weltmeistermannschaft im Formationstanz nun wirklich auskennt, über die Attacke dieser zeitgenössisch unterwanderten Standardtänze wohl nur müde lächeln konnte. Nur ganz selten löst sich bei Shropshire die Formation auf, fast immer tanzen alle sechs (dann fünf, dann vier…) Paare streng parallele Figuren. Das Konzept geht so gar nicht auf, weil Shropshire zu den großartigen Steigerungen in Bruckners Musik immer nur die gleichen Schritte einfallen – und weil man den fitten, energiegeladenen Tänzern aus São Paulo einfach nicht abnimmt, dass sie nach fünf, zehn oder sogar 20 Minuten schon total müde sein sollen. Einen Gnadenschuss gibt es nicht, leider auch keine Schlusspointe. Es bleibt einfach ein Siegerpaar übrig.

“Cartas do Brasil” von Juliano Nunes © Marcelo Marchado

Mutmaßlich weniger intellektuell grundiert, aber doch viel fetziger wirbelt „Umbó“ über die Bühne, die erste Uraufführung der jungen Leilane Teles für die SPCD. Ihr sinnliches, in die warme Sommernacht hineintanzendes Stück huldigt mit Songs von Tiganá Santana, gesungen von der starken Stimme der Jazzsängerin Virgínia Rodrigues, der schwarzen Kultur Brasiliens, auch die Choreografin ist Afrobrasilianerin. In einer trockenen, fast schon ironischen La-Ola-Bewegung wallen die Tänzer von rechts aus den Kulissen, die Männer erscheinen später in langen, weiten Derwisch-Röcken, deren leichter Stoff wie in Zeitlupe um sie schwebt. Teles erfindet nicht nur sehr laszive Bewegungen, sie hat Sinn für Humor: Einmal lupft das gesamte Ensemble die Röcke und zeigt uns kurz ein Popo-Zucken, dann entschwebt ein kleiner Hocker, der Sitz des Anführers, auf magische Weise nach oben. Das Werk ist episodisch strukturiert und überrascht stets aufs Neue mit szenischen und choreografischen Ideen: mit schicken Kostümen, geheimnisvollen Lichtwechseln und einer raffinierten, sich in die Musik schmiegenden Dynamik zwischen eleganter Moderne und einer stabilen Erdverbundenheit, zwischen Ballroom-Schuhen und barfuß, zwischen dem weiten Brasilien der Landbewohner und den Millionenstädten.

“Cartas do Brasil” von Juliano Nunes © Marcelo Marchado

Der Name Juliano Nunes ist bei uns bereits bekannt, der Brasilianer tanzte bei mehreren deutschen Kompanien, unter anderem bei Gauthier Dance, und choreografierte auch schon für größere Namen wie das NDT 2. Sein zwei Jahre altes „Cartas do Brasil“ sieht wie Brasiliens Antwort auf George Balanchine aus, nicht nur wegen des Himmelblaus der Unisex-Trikots. Die sieben Paare wogen zunächst als einheitliche Gruppe wie ein Schwarm im Wind. Die Vogel-Metapher durchzieht in den unterschiedlichsten Hand- und Armbewegungen, in den Gruppenstrukturen das ganze Stück – und setzt zusammen mit den Lichtstimmungen eine Art impressionistischen Kontrapunkt zur Neoklassik, zu den geraden Linien der Beine und der aufrechten Eleganz der Haltung. Zum zweiten, langsameren Teil der Bachiana Brasileira Nr. 8 von Heitor Villa-Lobos folgt ein elegisches Männer-Duett, nach dem weitere Paare und später Trios über die Bühne driften. Choreografisch fällt Nunes hier nicht so viel Originelles ein wie für die Gruppe, die sich zur rasanten Toccata wieder im Unisono zusammenfindet. Sehr musikalisch greifen die weiten Sprüngen und überraschenden Richtungswechsel die Jazz-Akzente der Partitur auf. Spannend ist der Kontrast zwischen den akademisch-schön gestreckten Posen und dem Flattern, den Schwanenhälsen und weiteren nervösen Vogelmotiven, alles identisch vervielfacht durch die 14 Tänzer. Bei aller virtuosen Neoklassik, die darinsteckt, wirkt „Cartas do Brasil“ wie eine stürmische Hymne des Choreografen auf die Natur, das Licht und die Rastlosigkeit seines Heimatlandes.