Choreografien von Annabelle Lopez Ochoa, Hans van Manen und Mthuthuzeli November beim Badischen Staatsballett in Karlsruhe
von Angela Reinhardt
Karlsruhes Ballettdirektorin Bridget Breiner stellt nicht einfach drei Stücke nebeneinander, die sich irgendwie ergänzen, sie programmiert ihre gemischten Abende raffiniert und durchdacht. Das verbindende Element von „Saiten/Sprünge“ ist Streichermusik in Kammerbesetzung, zweimal im Graben und einmal auf der Bühne, live gespielt von Musikern des Badischen Staatsorchesters. Der schöne Titel weist aber auch darauf hin, dass die Truppe choreografisch „fremdgeht“ und der Abend ausnahmsweise kein Stück ihrer fleißigen Chefin enthält. Wie Breiner binnen fünf Jahren die Arbeit ihrer Vorgängerin Birgit Keil weitergetragen und erweitert hat, wie sie die Ballettbegeisterung in Karlsruhe bewahrt und ihrem Publikum deutlich mehr Moderne ans Herz gelegt hat, das lässt für ihre nächste Wirkungsstätte beim Ballett am Rhein die schönsten Hoffnungen aufkommen. Jemand sollte nachdrücklich beim designierten Intendanten Christian Firmbach nachfragen, warum er eine derart magnetische Führungspersönlichkeit nicht in Karlsruhe gehalten hat.
Einen Versuch in Romantik wollte Annabelle Lopez Ochoa wagen; die belgisch-kolumbianische Choreografin bezeichnet sich selbst als sehr rationalen Menschen, und in der Tat bleibt ihr „Requiem for a Rose“, 2009 beim Pennsylvania Ballet uraufgeführt, weit entfernt von all dem Himmelhoch-jauchzend, das man hierzulande aus Liebes-Pas-de-deux à la Cranko, MacMillan oder Neumeier kennt. Zu laut pochendem Herzklopfen trägt Solistin Carolina Martins, barfuß und mit offenem Lockenhaar, eine große Rose im Mund, später variieren zwölf Tänzer das Liebesthema in Duos mit Begleitung durch die Gruppe im Halbrund. Als tiefrote Rosenblätter wirbeln ihre halblangen, mehrschichtigen Röcke im Bühnendunkel, getanzt wird auf Spitze und durchaus virtuos. Zum Adagio aus Franz Schuberts einzigem Streichquintett bleibt die Choreografie sehr formal, mit klassischen, ja streng akademischen Armhaltungen und einem manchmal fast balanchinesken, an der Mittelachse gespiegelten Aufbau. Lopez Ochoa lässt die Tänzer versetzt gegeneinander wirbeln und virtuos springen, es gibt hohe Hebungen und immer wieder treffen sich – In the middle, somewhat decorated – im Zentrum unterschiedliche Paare.
Zu früh, zu schnell? Mthuthuzeli November ist derzeit der internationale Choreografie-Shooting-Star, mit Kreationen in Zürich, London, demnächst in New York und sogar Paris, so war in Karlsruhe zu hören. Sein „Water Me“ lieferte ein exemplarisches Beispiel dafür, wie die Ausstattung den Tanz verschlingt. Ein betongraues Halbrund, das die Natur sich gerade zurückzuerobern scheint, bietet auf einer erhöhten Plattform Platz für die Streicher, unten spielt das Percussion-Ensemble. Das Bühnenbild hat der Choreograf gemeinsam mit Helena du Mesnil de Rochemont entworfen, das warme oder aschfahle Licht mit Rico Gerstner, und die Musik hat er gemeinsam mit Alex Wilson geschrieben. Die Kostüme stammen von Yann Seabra und zeigen in unglaublichem Detailreichtum Naturwesen in allen Farben des Regenbogens, mit Drachenkämmen, filigranen Masken oder feinen Federn, mit Körperbemalung, Schmetterlingen oder Flossen. Die 16 Tänzer liegen schlafend am Boden und zelebrieren unter einer Mond- und Projektionsscheibe ein langsames Erwachen, bewegen sich unisono tief im Plié, die Hände anbetend erhoben. Afrikanische Assoziationen finden sich auch in der Kreisform, aus deren Mitte zwei Frauen hervorgehen und in trauernder Umarmung die sterbende Erde beweinen. Die Streicher spielen meist für die Frauen (die auf Spitze tanzen), die Trommeln für die Männer. Auch außen um das Betonrund herum wird getanzt, zum Schluss fällt Schnee. Vielleicht hat der Choreograf all seine Fantasie aufs Gesamtbild des Stückes verschwendet, vielleicht blieb für die reine Bewegung zu wenig übrig; so viele seiner modernen Kollegen choreografieren in Bildern statt mit Schritten.
Und so blieb am Ende in einem perfekt nach Diversity-Ausgewogenheit zusammengestellten Abend der alte weiße Mann der Sieger. Der 91-jährige Hans van Manen ist eine lebende Legende, aber er (und die Karlsruher Tänzer) wurden keineswegs nur dafür mit einer Standing Ovation des gesamten Auditoriums bejubelt. Die „Große Fuge“, dieser strahlend helle, abstrakte Klassiker aus dem Jahr 1971, sieht in Karlsruhe schon allein durch die weite Bühne grandios aus, auf der das Frauen- und Männerquartett in klaren, strengen Linien zu Beethoven hin- und hergleiten. Van Manen choreografiert bekanntlich handlungslos und in eleganter Neoklassik, und doch sieht man in jeder einzelnen Bewegung den schwärenden Konflikt zwischen Männern und Frauen: Misstrauen, Ablehnung, Herausforderung, Wut. Die unverwandten Blicke der still stehenden Frauengruppe, die erhabenen, durchweg schönen Arme, die eben doch in geballten Fäuste enden, das Davonstolzieren, der kleine Schritt zu nah in den persönlichen Bereich des Gegenübers hinein: Wie kaum ein anderer Choreograf lenkt van Manen den Blick auf die kleinsten Nuancen. Er arbeitet streng und eigenwillig, steckt aber bis zu den wütenden Schlägen einer Frau auf den Bauch ihres Partners voller Überraschungen, genauso wie mit den abgewandten Köpfen der Männer im Schoß der Frauen. Natürlich ist es auch sein endloses Repertoire an Schritten, das grundlegende Handwerk, das ihm all diese Möglichkeiten der Andeutung eröffnet, des subtilen Charakterisierens ohne Worte. In der Einstudierung von Nancy Euverink bewegten sich Olgert Collaku, Lucas Erni, Sophie Martin, João Miranda, Lucia Solari, Joshua Swain, Balkiya Zhanburchinova und Sara Zinna mit der nötigen Prägnanz, mit abwartender Vorsicht und sexuellen Vibrationen, keine Sekunde ließen sie Spannung abreißen. Am Schluss reckt sich ein einzelner Schwanenarm aus der am Boden liegenden Gruppe nach oben und erzählt so viel mehr über Beziehungen und Frieden als ein ganzes Ballett über Rosen.