Mit Maillot, Lightfoot und León weiter im Repertoire!
Das Staatstheater Nürnberg Ballett erntete Standing Ovations
Von Alexandra Karabelas
Am Staatstheater Nürnberg verwirklichte Goyo Montero ein Wunschprojekt. Der seit sechzehn Jahren erfolgreiche Ballettchef fügte dem Repertoire jetzt Stücke von Jean-Christophe Maillot sowie Sol León und Paul Lightfoot hinzu, die diese jeweils für ihre Ensembles, den Ballets de Monte-Carlo und dem Nederlands Dans Theatre, kreiert hatten: „Les Noces“ von Igor Strawinsky und „Stop-Motion“ auf Kompositionen von Max Richter. Für Montero und sein Team bildeten die Werke einen neuen Meilenstein in einer vielbeachteten und seit Jahren gepflegten internationalen Repertoire-Entwicklung für das Nürnberger Publikum. Dieses dankte am Samstagabend mit Standing Ovations. Die Tänzerinnen und Tänzer hatten mit ihrem Elan, ihrer Präsenz, ihrer Präzision und großen Seelentiefe beide Werke auf den Punkt gebracht.
Hohes Energielevel des Nürnberger Ensembles
Es war dabei elektrisierend zu sehen, wie einerseits Jean-Christophe Maillot mit Strawinskys Grenzen sprengender Komposition formal und inhaltlich umgegangen ist; andererseits auf welch hohem Energielevel das Nürnberger Ensemble Maillots choreografischer Neufassung aus dem Jahr 2022 Leben einhauchte. Denn gehört es zu den prägenden Erfahrungen beim Hören von „Les Noces“, dass Strawinskys Tanz-Kantate wegen ihrer instrumentalen Wildheit überwältigen kann. Choreografie und Tanz müssen sich dazu wie eigenständige Gegengewichte verhalten, sonst werden sie von der Musik schlicht überrannt: Rasseln, Trommeln, Glocken und Beckenschläge arbeiten die Archaik und Dramatik des Themas von „Les Noces“, eine traditionelle russische Hochzeit in einer Dorfgemeinschaft, heraus. Wie Maschinenkolben treiben dabei die Schlagwerke mit schnellen, kräftigen Rhythmen das unaufhaltsame Geschehen voran. Die Gesänge der Solistinnen, Solisten und des Chores umschreiben dabei oft in hohen Tonlagen und steilen Wechseln zu Bässen beschwörend, frenetisch, fordernd und feiernd das kollektive rituelle Ereignis, das in vier Etappen alle Beteiligten verändern wird: die junge Frau, die zur Braut wird, die Familie des Bräutigams, die sie aufnehmen wird, ihr Auszug aus ihrer Herkunftsfamilie sowie das Fest als Vorspiel zur Hochzeitsnacht, mit der die Mini-Oper endet. Als das Werk 1923, nach zehnjähriger Entstehungsphase, im Pariser Théâtre de la Gaite-Lyrique zur Uraufführung kam, getanzt von den legendären Ballet Russes in einem heute betrachteten bäuerlich-historischen Kostümbild und unter Leitung von Impresario Sergej Diaghilew, bezeichnete es dieser als die schönste russische Arbeit, die das polyglotte Paris der 1920er Jahre seinerzeit zu sehen bekäme. Für die Choreographie zeichnete damals Bronislawa Nijinska verantwortlich, die als einzige Frau jemals für die Ballets Russes choreografiert hatte.
Fotos: © Jesús Vallinas


Mit der Rustikalität und dem Pathos der choreografischen Urfassung könnte die heutige westliche Kunst- und Kulturwelt mittlerweile wenig anfangen. Dennoch kann Maillots bewundernswerte künstlerische Arbeit an „Les Noces“, die er erstmals 2003 in seiner eigenen Fassung herausbrachte, trotz seiner schnörkellosen und stilvollen, ungemein zeitlos ästhetischen Umformung auch als tiefe Verbeugung vor Nijinskas Formensprache gelesen werden, wenn man sich seinen ebenso raffinierten Umgang mit rasch aufgebauten und wieder aufgelösten Symmetrien, Asymmetrien und Richtungswechseln der Paare und Gruppen im Raum, den Einsatz zahlreicher kraftvoller Sprünge sowie Attitüden und Arabesken nochmals vor Augen führt, die mit jugendlicher Überschwenglichkeit und dabei bestechender Klarheit auf der Bühne gelebt werden. Dabei dominiert vor allem zu Beginn von Maillots neoklassisch geprägter Choreografie der Wille, die Musik durch den Tanz sichtbar zu machen.
Mit gefesselter Aufmerksamkeit verfolgte man so in Nürnberg, wie tatsächlich Moment für Moment die gesehene Bewegung im Dialog mit den musikalischen Ereignis ist und diese spiegelt, so, wie es beispielsweise in ganz anderer Art immer wieder herausragend dem 2004 verstorbenen Uwe Scholz gelungen war. Später verdichten sich die narrativen Elemente. Die seelische und psychologische Komplexität der anstehenden Veränderungen wird durch einen kontrastreichen Umgang mit dem neoklassischen Vokabular und einer erzählerischen Ausrichtung der Choreografie bildhaft greifbar. Im Zentrum stehen dabei Lisa Van Cauwenbergh als Braut und Luca Branca als Bräutigam, deren Jugendlichkeit das bevorstehende Ritual der Eheschließung übermächtig werden lässt. Zum Kunstwerk wird Maillots Inszenierung schließlich durch seine Ausstattung. Streng in schwarz, weiß und grau gehalten, tragen alle Tänzerinnen und Tänzer streng geschnittene Hosenanzüge oder Hemd und Hose. Der Raum wird durch meterhohe offene Wände in denselben Farben gehalten, die jeweils an den Seiten wie eine Welle geschnitten sind. Später werden sie zu einem schlichten viereckigen Raum zusammengeschoben. Danach wird ein Formelement – ein langer Tisch, der zuvor als flexible Festtafel diente, die hin- und hergeschoben und besprungen wurde – mittig hoch aufgestellt. Es schließt wie das fehlende Element den Raum, während sich das Paar auf ihm einander hingibt, so wie es beispielsweise die amerikanische Künstlerin Nan Hoover in ihren Arbeiten Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre oft ähnlich herausgearbeitet hat. Vergleicht man Maillots Inszenierung nun beispielsweise kurz mit jener, die Pontus Lidberg 2019 an der Pariser Oper herausbrachte und die die Ästhetik der urbanen Gegenwart gelungen zitiert hatte, mit all ihren Hoffnungen und Brüchen, fällt die abstrakte und klare Schönheit dieser Nürnberger Fassung noch mehr ins Auge.
Tanz in traumwandlerischer, überirdischer Schönheit
„Stop-Motion“ von Sól León liest sich im Anschluss wie eine wundersame Fortsetzung der Geschichte des Paares in einer anderen Dimension. Stückbegründendes Element ist eine Videoprojektion eines Dreiviertelportraits in 3D-Optik in betörenden Schwarz-, Weiß- und Grautönen einer jungen Frau, die anderen Zeiten entstammen könnte. In unendlich langsamen Bewegungen verändert es sich, dreht sich zum Rücken, dann wieder nach vorne, zur Seite. Geheimnisvoll und verschlossen schaut sie das Publikum an. Später rinnt ihr eine Träne die Wange hinunter. Es tut dabei nichts zur Sache, dass es sich um die Tochter des Choreografen-Paares handelt. Ebenso wenig ist interpretationsentscheidend, welche Umwälzungen León und Lightfoot 2014, als sie „Stop-Motion“ herausbrachten und das sie bislang kaum einer anderen Kompagnie als der eigenen anvertrauten, zu bewältigen hatten.

Denn das Werk, das raffiniert mit den Formen von Zeit und Raum spielt und diese durch eine gleichzeitige Repräsentanz in der Inszenierung auflöst, löst sich von den Intentionen und stillen Inhalten seiner Schöpfer ab und erzählt stattdessen in traumwandlerischer, überirdischer Schönheit von etwas ebenso Überwältigendem wie „Les Noces“, nämlich von Vergänglichkeit. Es schließt in Bildern, die von der hypnotischen und oft repetitiven Musik von Max Richter getragen werden und die einem wegen ihrer nicht endenden Schönheit fast die Sinne und den Verstand rauben, an die Melancholie von NDT-Begründer Jirí Klián an und überzeugt in erzählerischer Hinsicht als Vexierspiel. Ist das, was die Paare auf der Bühne tanzen, alles Erinnerung und Fantasie des jungen Mädchens? Oder leben sie für sie? Verteidigen sie gar ihre Existenz im Jetzt? Oder findet am Ende alles, was wir leben, im Erinnerungs- und Gedächtnisraum jener statt, die nicht mehr hier sind, die vorausgehen oder auch voraussehen? Immer wieder findet die komplexe und in sich raffiniert verwobene Choreografie zu Bewegungsformen, die die Tänzerinnen und Tänzer wie Kraniche als Boten anderer Welten erscheinen lassen. Sand und Staub als Zeichen der Erde und des Vergehens aller Materie auf den schwitzenden Körpern verdichtet das Bild bis an die Grenzen gehenden Tanzen als Widerstand gegen alles Vergehen. Am Ende, wie so oft bei einem Stück, das ursprünglich für das Nederlands Dans Theaters geschaffen worden war, heben sich die Seitenvorhänge, die Scheinwerfer fahren runter, das Theater zeigt sein Skelett. Übrig bleibt das eine Paar, das weiter tanzt. Ein starkes Bild des Versprechens. Großartig!