Defilee Chr.: Tamas Detrich Tänzer/Dancers: SchülerInnen der John Cranko & Das Stuttgarter Ballett © Roman Novitzky / Stuttgarter Ballett
Kritiken

Clowns und Dissidenten – die große Gala zu John Crankos 50. Todestag in Stuttgart

Es war ein schönes Bild von John Cranko, das am Schluss über Tänzern, Schülern, Ballettmeistern und den noch übrigen „Initialen“ leuchtete: den Kopf geneigt, lächelnd und mitten in der Arbeit im Ballettsaal, die er so liebte. War nach seinem frühen Tod 1973 zu erwarten, dass sein Stuttgarter Ballett ein halbes Jahrhundert später noch derart blühen und gedeihen würde, hätte damals jemand Wetten darauf abgeschlossen? Zu groß war das Entsetzen, aber seine Ballettfamilie hielt zu ihm und bewahrte sein Erbe bis heute, vielleicht nicht perfekt in der Repertoireauswahl, aber auf jeden Fall in einer an Persönlichkeiten reichen, weiterhin heiß geliebten Kompanie. Ganz ohne Gäste feierte sie ihren Gründer in einer vierstündigen Gala anlässlich seines 50. Todestages.

Wie stolz wäre der Choreograf und Ballettdirektor wohl heute auf „seine“ Schule, deren Absolventen vom ABT bis zum Mariinsky-Ballett brillieren, zum Glück vor allem in Stuttgart und an diesem Abend. Von den „Etüden“, der inzwischen 17 Jahre alten Stuttgarter Version des einst von Harold Lander für Kopenhagen choreografierten Werkes, gab es leider nur die kürzeste aller Kurzfassungen, aber mit tollen Fouettés und Jetés der oberen Klassen. Ein Defilée der gesamten Kompanie absolviert man in Paris routiniert mit dem strahlenden Selbstbewusstsein, die beste Kompanie der Welt zu sein; die familiären Stuttgarter, deren Qualitäten John Cranko von Anfang an im Individualismus fand, wirken immer ein Häuchlein ungelenk, wenn sie alle paar Jahrzehnte repräsentativ die Treppe herunterschreiten, vor lauter Ehrfurcht traut sich hier auch keiner zu klatschen.

Choreografie: John Cranko
Fotos: © Roman Novitzky / Stuttgarter Ballett

Elisa Badenes und Jason Reilly in “Hommage à Bolschoi”

Man konnte einige der Gelegenheitswerke sehen, die früher häufiger auf dem Spielplan standen und inzwischen kaum mehr gezeigt werden, die beiden Gala-Pas-de-deux „Hommage à Bolschoi“ und „Legende“ zum Beispiel. Möglich sind sie allein mit einem traumsicheren Partner wie Jason Reilly, der zuerst Elisa Badenes und dann Anna Osadcenko in einarmige, komplizierte Hebungen à la „Spartacus“ oder „Frühlingsfluten“ hinaufwarf und weit über die Bühne trug. Wo die „Hommage“ von 1964 choreografisch noch ein wenig unorganisch wirkt, da fließt „Legende“ von 1972 wie die sanft murmelnde Musik von Henryk Wieniawski, inspiriert vom blassrosa Flatterkleidchen Galina Ulanowas, das Marcia Haydée damals von ihr geschenkt bekommen hatte. In seinen Handlungsballetten setzt Cranko diese sowjetischen Kraftausbrüche nicht um der Virtuosität Willen ein, sondern verwandelt sie in das strahlend-schwebende Liebesglück Tatjanas im Spiegel-Pas-de-deux oder die Anbetung einer Heiligen im dritten Satz der „Initialen R.B.M.E“, auch das war später zu sehen. Nicht ganz so strahlend wie früher funkelte „Aus Holbergs Zeit“ mit seinen Andeutungen ländlicher Idylle, auch das Adagio strömte mit Veronika Verterich und Martí Fernández Paixà nicht ganz so beseelt wie in der Erinnerung an die vielen Interpreten von damals.

Friedemann Vogel und Matteo Miccini in “The Lady And The Fool” – Pas de deux , Ch. John Cranko

Crankos Londoner Zeit wurde mit dem britischen Humor von Captain Belaye, seiner Verlobten und deren dauerschnatternder Mutter aus „Pineapple Poll“ gewürdigt; wie schade, dass Timoor Afshar das zackig-ironische Solo des würdevollen Kapitäns nicht auch noch zeigen konnte. Als einen Choreografen „von Geschöpfen, deren Seele so empfindlich ist, dass sie sich hinter Masken und unter Verkleidungen verbergen“, so hatte Ballettkritiker Horst Koegler den neuen Ballettdirektor 1961 in Stuttgart begrüßt, und die zwei Clowns aus „The Lady and the Fool“ sind die besten Beispiele dafür. Friedemann Vogel und Matteo Miccini, als rothaariger Bootface sehr unschuldig und lieb, stritten so lange um eine Rose, bis nur noch Blütenblätter übrig waren, die sie in versöhnter Brüderlichkeit teilten.

Natürlich durften die drei großen Handlungsballette nicht fehlen, Anna Osadcenko und David Moore zeigten im Balkon-Pas-de-deux aus „Romeo und Julia“, wie Cranko das Glück der jungen Liebe, das Von-den-Füßen-Holen in Bewegung spiegelt und diese Gefühle bis zum ersten, buchstäblich umwerfenden Kuss mit natürlichen Gesten statt der damals immer noch üblichen, kodifizierten Pantomime erzählt. Wie muss dieses Werk 1962 ein Publikum fasziniert haben, das an ein solch choreografiertes Erzählen nicht unbedingt gewöhnt war. Der Mond, der hier über Jürgen Roses nächtlichen Veroneser Bäumen strahlt, fehlte leider beim Lenski-Solo aus Onegin, dessen viele Drehungen und Arabesquen Gabriel Figueredo nicht nur vollendet schön tanzte, sondern bei aller Intensität, allem Abschied vom Leben mit der melancholischen Gefasstheit eines Dichters, interpretatorisch in einer Reihe mit Egon Madsen, Vladimir Malakhov oder Friedemann Vogel. Was für ein Ausnahmetänzer. Vogel ist inzwischen zum Onegin gereift und mutierte nach seinem triumphalen Auftritt durch den Spiegel mit einem dämonischen Lächeln zum Liebestraum der schlafenden Tatjana (Elisa Badenes), die sich in Onegin den liebenden Menschen erträumt, der er erst viel zu spät tatsächlich werden kann. Für „Der Widerspenstigen Zähmung“ stand dann praktisch das gesamte Personal des Stücks um das trunkene Hochzeitssolo Petruchios herum, wo Ciro Ernesto Mansilla die berühmten Dreifach-Tours-en-l’air nicht ganz so spektakulär hinzwirbelte wie einst Richard Cragun. Dann ging‘s zurück zum turbulenten Zähmungs-Pas-de-deux und von da zum launigen Finale – wie erstaunlich Cranko doch den Humor und die formale Strukturgebundenheit der Commedia dell’arte mit seiner subtilen Charakterisierungskunst für Katharina und Petruchio vermischt hat.

“Opus I”, Tänzer/Dancers: Rocio Aleman, Ensemble

Das kaum mehr als elf Minuten kurze, aber ein ganzes Leben umfassende „Opus 1“ war seit einem Jahrzehnt nicht mehr gezeigt worden, Martí Fernández Paixà wirkte darin genauso schmal und stark wie einst Richard Cragun, Rocio Aleman wurde wie Birgit Keil von der herabsteigenden Göttin zur Mutter, zur Geliebten, Gefährtin und zum Tod: Von der Geburt bis zum Sterben fließt ein Leben in symbolischen, prägnanten Bildern, in zur Herzform gebogenen Körpern oder einer angedeuteten Pietà. Für kurze Zeit trägt die Frau den Mann, auch das ein völlig neues Bild, und irgendwann wird jemand eine Doktorarbeit darüber schreiben, wie viel Bedeutung Cranko in seinen Stücken dem Corps de ballet verlieh. Im Gegensatz zu einem George Balanchine oder Frederick Ashton bewegt er die Gruppentänzer oft auf sehr engem Raum, in vielen Szenen hat jeder eigene, andere Schritte. Das Corps ist in „Opus 1“ nie pure Dekoration, sondern steht dem zentralen Paar als die Außenwelt gegenüber, als die Gesellschaft, die Anderen.

Auch der Pas de huit aus Crankos verlorenem „Nussknacker“ beeindruckt durch die Sorgfalt, die vielen Einfälle, die der Choreograf dem handlungslosen Divertissement für vier Paare einschreibt. Nur selten tanzen sie alle gleich, immer wieder entstehen Staffelungen, steigende oder fallende Linien. Jedes Paar bekommt seine individuelle Richtung oder Pose, bevor sich alle wieder im Einklang finden, es ist ein nobles Spiel zwischen Ausbruch und Wieder-Einfangen. Die Akademiestudenten der Cranko-Schule glänzten hier ebenso wie im ironisch hingetupften „Salade“ zur Musik von Darius Milhaud mit ihren Jazz- und Tangoandeutungen. Ruth Schultz, Farrah Hirsch, Aoi Sawano und Maceo Gerard ließen in ihren rhythmisch vertrackten, kurzen und virtuosen Solos keinerlei Unterschied zu den Tänzern der Kompanie erkennen, sie sprühten vor Charme und guter Laune.

“Der Nussknacker “– Pas de huit.  SchülerInnen der John Cranko Schule: Katharina Buck, Alice McArthur, Noa Shoda, Kaela Tapper, Adrien Hohenberg, Leon Metelsky, Joshua Nunamker, Sergii Zharikov
“Onegin” – Pas de deux , mit Elisa Badenes und Friedemann Vogel

Im dritten, langsamen Satz aus „Initialen R.B.M.E.“ sieht Regisseur Joachim Lang in seinem derzeit entstehenden „Cranko“-Film den Choreografen symbolisiert – in der einsamem Figur, die damals von der „fünften Initiale“ Heinz Clauss verkörpert wurde und heute vom sehnend gestreckten, innigen Friedemann Vogel. Dieser Suchende wartet, umtanzt und gleichzeitig ignoriert vom Corps de ballet (das hier wiederum als Antagonist zum Solisten eingesetzt ist), auf die Erscheinung eines Menschen, den er lieben kann, damals verkörpert von der ätherischen Marcia Haydée. Ihre wie sanftes Wasser fließenden Pas de bourrée en couru, die winzigen Trippelschritte über die Bühne, hat seitdem nie wieder eine Ballerina so weich getanzt, leider auch nicht die ansonsten wunderbare Elisa Badenes. Bei der Gala beeinträchtigte das viel zu schnelle Dirigat ganz entschieden die tiefe Versunkenheit, die fast religiöse Andacht der Initiale M. Man könnte sich fragen, warum den Tänzern von heute der Humor Crankos so viel leichter gelingt als seine Lyrik, das war auch in den drei Miniaturen aus „Brouillards“ zu sehen. Im Cakewalk des „Général Lavine eccentric“ zum Beispiel, wo den drei Herren gewissermaßen der Strom ausging. In der Erinnerung wirbelten die langbeinigen Feen, die „Exquises danseuses“, früher mehr Sternenstaub auf als es Mackenzie Brown und Daiana Ruiz an diesem Abend taten, aber das mag verklärte Nostalgie sein.

“Salade”, mit  Ruth Schultz, Farrah Hirsch, Aoi Sawano, Maceo Gerard 
“Brouillards – IX: Des pas sur la neige”, mit Rocio Aleman, David Moore und Clemens Fröhlich

Das Stück, auf das alle warteten, kam zum Schluss: die letzten 15 Minuten von „Spuren“, Crankos legendäre letzte Choreografie, sieht man vom wohl misslungenen „Green“ ab, das er bei seinem letzten Premierenabend am 7. April 1973 als heiteren, versöhnlichen Abschluss ans Ende stellte und das dann die massiven Buhs bekam, die den Choreografen derart verletzten. Dass sie eigentlich dem politisch engagierten „Spuren“ galten, das kann man sich kaum denken, so tief beeindruckte die Wiederaufführung des Werkes nach fast 50 Jahren. Seine Anklage galt damals dem Sowjetregime, das die Tänzer Valery und Galina Panov an der Ausreise nach Israel hinderte, soll aber mit den tätowierten Nummern auf den Oberkörpern der vielen Gefangenen, die schließlich im Hintergrund erscheinen, als Anspielung auf jedes totalitäre Regime verstanden werden.

Auszug aus “Spuren”, mit Elisa Badenes und Martí Fernández Paixà
Auszug aus “Spuren”, Elisa Badenes, Friedemann Vogel, Statisten

Natürlich auch auf die Geschichte der Deutschen, die Nazi-Herrschaft lag damals gerade erst 30 Jahre zurück. „Spuren“ erzählt von einer Frau, die dem Totalitarismus entkommen ist, einen unendlich sanften, verständnisvollen Mann gefunden hat und doch das Leiden ihres früheren Partners, das Leiden ihres Volkes nicht vergessen kann. Martí Fernández Paixà, hohlwangig und kahlköpfig geschminkt, Friedemann Vogel im seriösen Anzug und vor allem Elisa Badenes als eigentlich gerettete, aber lebenslang vom Erlebten verfolgte Frau tanzten voll Verständnis und tiefer Emotion zu Gustav Mahlers zehnter Symphonie, inmitten einer – von heute aus gesehen – biederen Gesellschaft der 1970er-Jahre und eines nüchternen, perfekt passenden Bühnenbilds aus nackten Neonlichtern. Man sah Ballett in einer Tanztheater-Ausstattung, geprägt von der damaligen Zeit, und ein wahrhaft zu Unrecht vergessenes Werk, zumal genau solche Ereignisse sich immer und immer erneut wiederholen. Von den traurigen Clowns zu den gequälten Dissidenten – es sieht aus, als wäre Cranko noch ein politischer Choreograf geworden. Auf keinen Fall sollte diese späte Facette seines Schaffens wieder im Vergessen versinken.

Angela Reinhardt