von Evelyn Klöti
Für ihr erstes abendfüllendes Erzählballett in Zürich greift die Ballettdirektorin Cathy Marston nach dem Erfolgsroman „Atonement“ – Abbitte – des Briten Ian McEwan aus dem Jahr 2001, 2007 mit Staraufgebot bereits erfolgreich verfilmt. Nun also das Ballett zum gewichtigen, vielschichtigen Stoff. Cathy Marston macht die Hauptfigur und Ich-Erzählerin Briony Tallis – eine Dichterin im Roman, der in England spielt und sich über 70 Jahre – ein ganzes Leben – erstreckt, zu einer Choreografin. Und es funktioniert.
„Atonement“ ist eine Koproduktion mit dem Joffrey Ballet, Chicago. Die stimmungsvolle Musik ist eigens von der britischen Komponistin Laura Rossi kreiert worden, die sich einen Namen als Filmkomponistin gemacht hat. Am Pult der Philharmonia Zürich steht Jonathan Lo, der musikalische Leiter des Australian Balletts – eine Zusammenarbeit über mehrere Kontinente. Gemeinsam mit ihrem langjährigen Dramaturgen Edward Kemp gliedert Cathy Marston die Handlung in zwei Teile und einen Epilog, der auf die Metaebene und in die Gegenwart springt: Was heißt Erzählen? Und warum erzählt man eine Geschichte immer und immer wieder?
Das Bühnenbild von Michael Levine entführt einen ins ländliche England anno 1935. Im Garten probt die Jüngste der drei Tallis-Geschwister, die pubertierende Briony, glaubhaft interpretiert von der Solistin Inna Bilash, eine Tanzaufführung für die Familie, Verwandten und Freunde, die nach und nach eintrudeln. Der Vater weilt in London, aber die Mutter (Mélanie Borel), der Bruder Leon (Chandler Dalton) und die bewunderte große Schwester Cecilia (Max Richter) sind da – nebst Bediensteten, man gehört zur upper class. Nicht dazu, aber als Sohn der Haushälterin Mrs. Turner (Francesca Dell’Aria) mit den rich kids aufgewachsen, gehört Robbie (Brandon Lawrence). Er liebt Cecilia, und sie ihn. Eine nicht standesgemäße Liebe, die aber unausweichlich ist, zu stark ist das Begehren, zu heiß der Sommertag.
Max Richter auf Spitze als aufmüpfige Cecilia ist spitze (und die Kostüme von Bregje van Balen sind es auch!). In einem türkisfarbenen Kleid, das immer länger wird, tritt – trippelt – sie in Erscheinung. Zuerst nur in den erotischen Fantasien von Robbie, die er seinem Tagebuch anvertraut, dann in Fleisch und Blut. Brandon Lawrence und Max Richter tanzen ein Liebespaar in diesem spannungsvollen ersten Akt mit fein gezeichneten Figuren, das man nicht so schnell vergisst.
Der von Cathy Marston raffiniert choreografierte „Pas de Famille“ nimmt indes eine tragische, eine verbrecherische Wende, an der Briony Tallis einen Roman, ein Leben lang zu beißen hat. Sie beobachtet ihre Schwester beim einzigen und dezent dargestellten Geschlechtsverkehr mit Robbie. Als tags darauf ihre Tanzaufführung misslingt, weil die Zwillinge, ihre Cousins, kneifen und abgehauen sind, und ihre Cousine Lola bei der Suchaktion vom reichen Freund ihres Bruders vergewaltigt wird, bezichtigt Briony Robbie des Verbrechens und zerstört somit das Leben der beiden Liebenden.
Robbie Turner – an seine Unschuld glauben nur die Mutter und Cecilia – wird verhaftet, eingekerkert und in den Krieg eingezogen, die Schwestern amten als Krankenschwestern. Der zweite Weltkrieg macht der ländlichen Idylle ein Ende und gibt die Bühne frei für das Ensemble im zweiten Teil, der choreografisch schwächer ist als das Kammerstück im ersten. Britische Soldaten oben ohne beim Exerzieren mit grand jetés; Krankenpflegerinnen, die weisse Gitterbetten mit Verwundeten herumschieben und Balletttänzerinnen mit Gasmasken bei ihren exercices an der Stange – das ist, auch wenn historisch verbürgt, wirklich zu plakativ.
Immerhin wird der sensationelle Liebes- und nun Abschieds-Pas de Deux von Cecilia und Robbie wiederholt, dieses Mal imaginiert und inszeniert von Briony, die ihrem Wunsch nach Abbitte, Sühne und Wiedergutmachung Ausdruck verleiht. Die Liebenden verzeihen ihr jedoch nicht, ihre Cousine Lola heiratet sogar ihren Vergewaltiger und Briony – wenngleich eine gefeierte Choreografin – muss mit ihrer Schuld leben.
Und hier – das Publikum klatscht bereits Beifall – springt das Ballett auf die Metaebene, und wir sehen die betagte Briony (Shelby Williams) am Choreografieren und hören ab Tonband ein Interview des Dramaturgen Michael Küster mit der „echten“ Briony über das, was wir gerade gesehen haben, dass alles auch anders hätte sein oder inszeniert werden können. Kate Strong – unvergessen seit William Forsythes „Artifact“ in Zürich – leiht Briony ihre Stimme, erzählt, wie es wirklich war. War es das? Dass die Liebenden nämlich im Weltkrieg gestorben sind, ohne sich je wiedergesehen zu haben. Dass das, was gesagt wird, auch noch vertanzt wird, zieht den Abend in die Länge. Dennoch dürfte Ian McEwan – beim langen Schlussapplaus auf der Bühne präsent – zufrieden sein mit seinem nun auch „vertanzten“ Roman.