"And so am I", Ch. Neshama Nashman TänzerInnen: Aoi Sawano, Irene Yang © Stuttgarter Ballett
Kritiken

Was mit Schleim und was mit Klassik

„Junge Choreografen“ beim Stuttgarter Ballett

von Angela REINHARDT

Zu viel Text. Viel zu viel Text. Der diesjährige Noverre-Abend beim Stuttgarter Ballett begann mit einem sehr jungen Multitalent, das gerade die John-Cranko-Schule absolviert hat: Carlos Strasser komponierte auch die Musik, spielte Klavier und rezitierte einen fast pausenlosen eigenen Text, neben dem der Tanz fast unterging, weil er die Worte pantomimisch verdoppelte. Yana Peneva und Carter Smalling, Mitschüler aus der Abschlussklasse, waren als zwei unschuldige Kinder in „Zwischen Wind und Asphalt“ freundlich unterfordert.

Acht junge und nicht mehr ganz so junge Choreografen stellten in der Edition 2024 ihre Werke vor: fünf aus Stuttgart und drei Gäste, sieben Männer und eine Frau, kein einziger von ihnen ein Debütant, denn ausprobiert haben sie das Finden von Schritten und die Gestaltung eines Tanzstücks alle schon einmal. Der Noverre-Abend des Stuttgarter Balletts, wo schon so viele wegweisende Meister einmal angefangen haben, fiel in diesem Jahr sehr abwechslungsreich aus und zeigte, wenn man einen Aspekt besonders herausheben will, vor allem die Qualität der hauseigenen Ballettschule. Dort wurde nicht nur die Hälfte der angehendenTanzschöpfer ausgebildet, sondern auch die meisten Tänzer, die mit ihren 20, 22 Jahren genauso viel Ausdruck, Intellekt und künstlerischen Spürsinn beweisen wie die langjährigen Profis.

Der junge Italiener Emanuele Babici will unbedingt Geschichten erzählen, in diesem Falle die alte Sage vom „Gaspard de la nuit“, hinter dem sich der Teufel verbirgt. Der versucht mit zwei Helferlein, die Seele eines Mädchens zu rauben. Babici kennt das klassische Handwerk und verfügt über ein riesiges, virtuoses Vokabular (was man nicht von jedem Choreografen des Abends sagen kann) – wie schade, dass er nicht abstrakter arbeitet und stattdessen in den Untiefen einer nun wirklich vergangenen Ästhetik versinkt, bis hin zu angeklebten Koboldsöhrchen. Dass er Satchel Tanner, Elisa Ghisalberti, Aoi Sawano und Dorian Plasse in klischeehaften Rollen, aber immerhin technisch toll in Szene setzte, zeigt sein Talent.

Elisa Ghisalberti, Satchel Tanner in „Le piège de Gaspard“, Ch. Emanuele Babici © Stuttgarter Ballett

Noan Alves wollte offensichtlich mal was mit Schleim machen, er spielte mit den beiden Corps-de-ballet-Neulingen Abigail Willson-Heisel und Mitchell Millhollin die bekannten Dehnungseffekte moderner Pas de deux durch, bevor sie sich mit einer beigen, glibberigen Masse beschmierten. Warum? Dann brachte ein Engel eine junge Frau in den Himmel, die fassungslos über ihren Tod war und ihn nur langsam akzeptierte: Adrian Oldenburger nutzte das starke Partnering und die sanfte Empathie seines Kollegen Clemens Fröhlich, um die sonst gerne ein wenig vordergründig wirkende Veronika Verterich als spontane, tief fühlende Darstellerin in Szene zu setzen. Er tat dies mit arg einfacher Symbolik, zeigte aber als fast einziger an diesem Abend echte, glaubhafte Menschen.

Alessandro Giaquinto, Christopher Kunzelmann, Flemming Puthenpurayil in „10 Minutes of Silence“, Ch. Martino Semenzato © Stuttgarter Ballett

Martino Semenzatos „10 Minutes of Silence” bewahrt tatsächlich fast bis zum Schluss die Stille, wenn Flemming Puthenpurayil die bewegungslosen Körper von Alessandro Giaquinto und Christopher Kunzelmann über die Bühne zerrt und versucht, sie in Posen zu dekorieren. Die beiden aber rollen sie sich wie Yin und Yang immer wieder zu einem schützenden Knäuel zusammen und ziehen, als unerwartet doch Leben in ihnen erwacht, den Manipulator ins Spiel hinein. Das geheimnisvolle Stück changiert zwischen dem Experiment eines Magiers mit zwei lehmigen Golems und einer heimlichen Parodie aufs Choreografieren. Vor allem aber spricht allein die Bewegung: Bravo!

Als Gast vom Ballett am Rhein griff die Kanadierin Neshama Nashman ein Gedicht von Mahmoud Darwish über eine zufällige Begegnung auf und setzte die geschilderte Fremdheit und gleichzeitige Anziehung in ein weibliches Duo um. Die Adaption von Lyrik in Bewegung gelang sehr staunenswert, mit großer Intensität und einem einfallsreich choreografierten Spektrum von Zögern und Locken, Selbstaufgabe, Drohung, Angst und Hingabe. Irene Yang und Aoi Sawano, die sonst mit ihren grazilen klassischen Variationen bezirzen, erwiesen sich als eigenwillige, starke Interpretinnen im zeitgenössischen Fach.

Ruth Schultz, Macéo Gérad in „Stand by me“, Ch. Vladyslav Detiuchenko © Stuttgarter Ballett

Vladyslav Detiuchenko gehört zum neuen United Ukrainian Ballet aus Balletttänzern, die vor dem Krieg nach Europa geflüchtet sind. Er arbeitet schon länger als Choreograf, was man seinem raffinierten, atmosphärischen

Abigail Willson-Heisel, Mitchell Millhollin in „Trepidation“, Ch. Noan Alves © Stuttgarter Ballett

Duo „Stand by Me“ deutlich ansah. Eine junge Frau wird vom Geist ihres toten Geliebten besucht, Detiuchenko spielt mit Bewegungs-, Requisiten- und Lichteffekten und macht dank der unheimlichen Musik seines Landsmanns Yurii Shepeta fast ein Horror-Ballett daraus, ein wenig im Stil des kanadischen Choreografenduos „Out Innerspace“ oder des Schweden Jakop Ahlbom. Aber mit deutlich mehr Tanz, denn der Ukrainer zeigt den tröstlichen Vorgang, mit dem eine bloße Erinnerung zur leiblich empfundenen Berührung wird, die dann, was für ein melancholischer Schluss, auch ohne den geisterhaften Besuch weiter haften bleibt. Ruth Schulz und der augenlos geschminkte Macéo Gérard, beide so blutjung wie instinktiv sicher im Ausdruck, sangen erneut den Ruhm der Cranko-Schule.

„Unbound“, Ch. Edvin Revazov, Ensemble Hamburger Kammerballett © Stuttgarter Ballett

Edvin Revazov, Protagonist in zahlreichen Uraufführungen John Neumeiers, hatte sein Hamburger Kammerballett mitgebracht, ebenfalls eine kleine Kompanie aus ukrainischen Exilanten. Sein „Unbound” zum Trauermarsch aus Beethovens „Eroica“ blieb trotz aller Hans-van-Manen-Eleganz seltsam zurückhaltend, konnte sich nicht zwischen minimalistischem Formbewusstsein und den Andeutungen eines Beziehungskonfliktes entscheiden. Vielleicht würde ein Hauch Neumeier-Pathos hier nicht schaden. Sehr sympathisch, wie Alexandre Riabko, ebenfalls Ukrainer und als Erster Solist in Hamburg einer der besten Nijinskys in Neumeiers gleichnamigem Opus Magnum, mal eben als Ersatz hinten links einsprang. Bei aller Bewunderung für die Projektleiterin Sonia Santiago, die den Abend sehr wortreich moderierte, sehnte man sich nach früher, als Fritz Höver, der legendäre Begründer der Noverre-Abende, nur beim Schlussapplaus kurz autauchte. Noverre ist nicht „Ballett im Park“, diesem Publikum aus Kennern, Insidern und Neugierigen muss man das Ballett nicht neu erklären.