Elisa Badenes © Stuttgarter Ballett
Kritiken

Auf dem Weg zum Weltstar

Viele Debuts in „Schwanensee“: Generationenwechsel beim Stuttgarter Ballett

von Angela REINHARDT

Friedemann Vogel und Jason Reilly sind raus, beide tanzen den Siegfried in „Schwanensee“ nicht mehr: Das Stuttgarter Ballett befindet sich in einem Generationswechsel, in den Klassikern rückt die junge Riege nach. In John Crankos über 50 Jahre alter Version des Klassikers, sie dürfte bei Weitem die älteste in Deutschland sein, debütierten nun reihenweise Prinzen und auch zwei neue Schwanenprinzessinnen. Von einem Egon-Madsen-Wiedergänger bis zu vierfachen Fouettés war alles dabei – vor allem aber ein wunderbares Corps de ballet, für dessen fast magisch ineinander fließende Linien und musikgeborene Leichtigkeit die neue Stuttgarter Ballettmeisterin Liz Toohey verantwortlich zeichnet. Beim Menschenfreund John Cranko haben selbst die ikonischen Figuren der Schwäne eine Seele: Todesmüde liegen sie im vierten Akt am Boden und scharen sich später in einer Resignation der Unerlösten immer wieder um ihre Königin. Ob sie in Kreisen, einer langen Linie aus 24 Ballerinen oder in kleineren Formationen tanzen, stets stimmen die Abstände und die Symmetrien der Tänzerinnen, stets erheben sich ihre Arme in nahezu perfekter Einheit.

Elisa Badenes, Henrik Erikson, Ensemble © Stuttgarter Ballett
Elisa Badenes, Henrik Erikson, Ensemble © Stuttgarter Ballett

Die Premiere tanzte Elisa Badenes, noch immer so federleicht auf den Beinen wie bei ihrem Debüt 2011, aber gereifter im dritten Akt, wo sie den verführerischen Schwarzen Schwan sehr modern, ja fast sexy anlegt. So wie ihr damals mit Marijn Rademaker ein sicherer Partner zur Seite stand, so gab sie nun ihrem neuen Prinzen innere Ruhe: Henrik Erikson, seit 2018 in der Kompanie, tanzt mit edler Haltung und ist ein guter Partner von vollendeter Höflichkeit. Manchmal zu höflich, denn es knisterte nur selten zwischen den beiden. Seine Solos im ersten Akt absolvierte er sauber, kam aber bei den Sprüngen kaum vom Boden weg, auch im dritten Akt hob er selten ins Spektakuläre ab. Wenn ihn Direktor Tamas Detrich direkt nach dem Debüt zum Ersten Solisten ernannte, so erkennt er hoffentlich bereits die Autorität, die der junge Schwede in kommenden Partien noch entwickeln wird. Dass Erikson mit seinen hellblonden Locken wie der junge Egon Madsen aussieht, dürfte seiner Popularität nur zuträglich sein.

Anna Osadcenko, Matteo Miccini © Stuttgarter Ballett
Aiara Iturrioz Rico, Aoi Sawano, Agnes Su, Matteo Miccini, Alicia Torronteras, Elisa Ghisalberti, Ensemble © Stuttgarter Ballett

Matteo Miccini, der nächste Siegfried-Debütant, bestach durch elegante Linien und eine reine, klare Technik. Dafür geriet seine Ballerina bei den gehaltenen Pirouetten manchmal ein wenig ins Trudeln – Anna Osadcenko entspricht mit ihrem schmalen Körper, den langen Beinen und ihrem hohen Spann dem russischen Ideal von Odette, sie zelebriert die weißen Akte als Huldigung an die große Tradition. Ihre Odile bleibt weniger explosiv, wirkt im Abwechseln von Funkeln, Flirten und Konzentration auf die Technik zuweilen ein wenig inhomogen. Osadcenko brilliert inzwischen eher in den dramatischen Rollen, etwa als großartige Tatjana.

Agnes Su, Adhonay Soares da Silva, Ensemble © Stuttgarter Ballett
Agnes Su, Adhonay Soares da Silva, David Moore, Ensemble © Stuttgarter Ballett

Auch bei Agnes Su, der ersten Schwanen-Debütantin, setzt sich die schwierige Rolle noch ein bisschen aus einzelnen Momenten zusammen. Technisch hat sie alles, was man braucht, sie steht leicht auf Spitze und tanzt sehr musikalisch, die Akzente sitzen, ihre Arme sehen leicht und fließend aus. Als weißer Schwan wirkt sie fast zu menschlich, lächelt ein paar Mal, obwohl sie doch traurig sein sollte und eine jenseitige Erscheinung. Im schwarzen Akt flirtet sie in alle Richtungen und übertreibt es mitunter mit dem lasziven Verführungsfuror. Su verliert sich in Details, anstatt einen durchgehenden Bogen zu finden. Sie dreht jedes dritte der Fouettés doppelt, bringt aber die Serie nicht ganz perfekt zu Ende. Als ihr Siegfried hat Adhonay Soares da Silva plötzlich das prinzliche Strahlen entdeckt, tatsächlich wirkt er als Darsteller deutlich lockerer als früher. Technisch ist er mit seinen hohen Sprüngen und den fast bis zum Stillstand verlangsamten Drehungen ohnehin der beste aller Stuttgarter Prinzen. Als einziger legt Soares ein paar tolle, effektvolle Virtuosentricks ein, da macht es nichts, wenn er am Schluss ein wenig ungeschickt in den Wellen des Sees untergeht.

Mackenzie Brown, Martí Paixà © Stuttgarter Ballett
Martí Paixà © Stuttgarter Ballett

Martí Paixà wäre eigentlich das ideale Gesamtpaket – ein spontaner, romantischer Darsteller, ein absolut sicherer Partner vom Format Richard Craguns oder Jason Reillys, der sich einen Spaß daraus macht, seine Ballerinen nach schwierigen Hebungen ganz langsam und sanft auf dem Boden abzusetzen, dazu ein ausnehmend schöner Prinz. Wenn er am Ende des weißen Aktes alleine auf der Bühne steht, sieht man das Glück des frisch Verliebten auf seinem Gesicht, er wechselt innige Blicke mit seiner Odette Mackenzie Brown, zwischen ihm und Odile flirrt die Luft. Dass er seine Solos wackelig zu Ende bringt, ist man von ihm eigentlich nicht gewohnt, die wenig spektakulären Sprungkombinationen rettete er mit langen, rasant beschleunigten Drehungen. Und trotzdem dreht Siegfrieds Freund Benno noch toller – Gabriel Figueredos Technik ist makellos schön, aber offensichtlich fehlt dem so unglaublich talentierten Brasilianer noch immer die letzte Entschlossenheit beim Partnern. Sonst wüsste man keinen Grund, warum er nicht die Hauptrolle tanzt. Ob er ein ewiger Solitär bleiben will?

Auch drumherum gibt es fast nur Schönes zu entdecken. Die Ausbildung in der John-Cranko-Schule scheint tatsächlich ewig lange Pirouetten zu garantieren, wie sie etwa Edoardo Sartori als Benno oder Riccardo Ferlito im neapolitanischen Tanz zeigen. Bei den fünf Bürgerinnen, die Siegfried im ersten Akt in einem Divertissement bezirzen, stachen die stets topsichere Diaina Ruiz, Aoi Sawano oder Ruth Schultz heraus, und endlich kehrte auch Diana Ionescu nach sehr langer Verletzungspause von den Charakterschuhen wieder auf die Spitze zurück. Die unbändige Energie der verlorenen Jahre überstrahlt fast ihre edle russische Haltung mit der besonders schönen Linie von Hals und Kopf; hoffentlich ist sie bei der nächsten Wiederaufnahme als Odette/Odile dabei. Als große Schwäne verströmten sich Daiana Ruiz und Mackenzie Brown in ruhigen, melancholischen Linien, auch Abigail Willson-Heisel und Priscylla Gallo tanzten als zwei ideale Spiegelbilder (bei diesen Vornamen müsste eigentlich ein Choreograf einen alten englischen Roman für sie adaptieren).

Clemens Fröhlich, David Moore und vor allem der bedrohliche Adrian Oldenburger hatten als Rotbart ihren weiten schwarzen Umhang bestens unter Kontrolle; Cranko verleiht dem bösen Zauberer große Schicksalsmacht, wenn der im vierten Akt mit seinem Mantel über den am Boden liegenden Prinzen streicht und ihn dem Tode weiht, oder wenn das dunkle Tor am Seeufer schließlich einstürzt und sich gewissermaßen das Portal zur Schwanenwelt, die Möglichkeit zur Erlösung für immer schließt.

Mackenzie Brown © Stuttgarter Ballett

Die letzte Debütantin in der Titelrolle war Mackenzie Brown, deren Heranwachsen zu einer Primaballerina und zum internationalen Star das Stuttgarter Publikum derzeit mit atemlosen Staunen verfolgt. Gerade 22 Jahre alt war sie kurz vor ihrem Debüt in der wichtigsten aller Ballerinenrollen geworden, und zeigte eine Autorität, eine souveräne Sicherheit in Technik und Rollengestaltung, die sie einfach zu einer Ausnahme machen. Ihre Drehungen sind bombenfest zentriert, die 180-Grad-Splits wirken nicht angeberisch, sondern entfalten sich weich aus der Situation heraus, ihre Hände sehen fast noch filigraner aus als die Arme. Sie kennt die Musik ganz genau, findet ihre Posen nie mit einem „Einrasten“, sondern verlangsamt die Dynamik vorher noch einmal unmerklich, formuliert alles fein aus.

Wo Agnes Su und Anna Osadcenko die zweigeteilte Rolle als ein Ballett-Heiligtum zelebrieren, wo Elisa Badenes in den weißen Akten wie ein zartes, kaum fassbares Feenwesen über die Bühne weht, da tritt Brown wie eine Schwanenkönigin auf, eine sehr traurige Königin. Sie verteidigt ihre Schwäne mit stolzer Autorität, misstraut dem Eindringling zunächst, bevor sich beide tief in die Augen schauen. Browns Interpretation ist durchdacht, viel stärker noch im dritten Akt, wo sie bei ihrer elegant stilisierten, stets auf ihr Ziel, den Prinzen, gerichteten Verführung locker mit der Choreografie spielt. In ihrer Premiere zeigte sie vierfache und ein fünffaches Fouetté, das Publikum konnte nur noch japsen. Nie sieht man die große Konzentration auf ihrem Gesicht, stets ist sie in der Rolle – keine Frage, die junge Amerikanerin, die an der Académie Princesse Grace in Monte-Carlo ausgebildet wurde, ist a force of nature und wird eine sehr große Karriere machen. Der starke, sichere Martí Paixà ist als Partner ein Glücksfall für die groß gewachsene Tänzerin und sie vertraut ihm völlig. Aber selbst er muss bei so viel stürmischer Attacke manchmal nachfassen, rein technisch kann er ihrem Format kaum standhalten.

Dirigent Mikhail Agrest ließ die die Musik strahlen und das Orchester spielte Tschaikowsky deutlich respektvoller als in früheren Zeiten. Allerdings gehen dem streitbaren Russen immer mal wieder die Pferde durch und er beschleunigt zu stark. Dann sieht man den Interpreten an, dass sie wochenlang ein anderes Tempo einstudiert hatten und nun plötzlich hetzen müssen, im Pas de six der Bürgerinnen etwa, einmal auch im Finale des zweiten Aktes. Vielleicht wäre es angebracht, den Respekt gleichmäßig auf Tschaikowsky und die Tänzer zu verteilen.