Samuel Gilovitz, Marc Galvez, Leon Poulton, Arno Brys, Jacqueline Trapp, Foto Susanne Reichardt
Kritiken

„Momentum“ als Stream des Dance Theater Heidelberg

Der Begriff ist neu, und er charakterisiert ganz gut all die Arbeiten, die vor der Krise entstanden sind, aber nicht mehr öffentlich vorgestellt werden konnten. „Pre-Corona-Choreografien“ also. Beim Dance Theater Heidelberg, kurz DTH genannt, sind es gleich drei, die das Publikum nie zu Gesicht bekam, obwohl ursprünglich insgesamt neun „Momentum“-Vorstellungen im Heidelberger Zwinger angesetzt waren: „众–III (zhòng)“ von Yi-Wei Lo, „Kick the Bucket“ von Hausherr Iván Pérez und „Crash“ seiner belgischen  Kollegin Astrid Boons. Damit die ganze Anstrengung nicht umsonst war, gibt es sie am 20. März erst mal als Stream.

Andrea Muelas Blanco, Arno Brys, Foto Susanne Reichardt
Marc Galvez, Arno Brys, Jacqueline Trapp, Samuel Gilovitz Leon Poulton, Foto Susanne Reichardt

Es wäre auch wirklich zu schade gewesen, wenn ein Stück wie „众–III (zhòng)“ der Vergessenheit anheim gefallen wäre, bevor man sich damit überhaupt hätte auseinandersetzen können. Schließlich zeigt sich DTH-Tänzerin Yi-Wei Lo damit als ein choreografisches Talent, auf das man ein wachsames Auge haben sollte. Die Taiwanesin spielt im Titel mit der Bedeutungsfülle eines chinesischen Begriffs, das nicht nur für eine Menschenmenge steht, sondern auch einen Bezug zu der Zahl 3 erkennen lässt. Mit Inés Belda Nácher, Orla McCarthy und Andrea Muelas Blanco stehen denn auch drei Ensemblemitglieder auf der Bühne, die erst versuchen, einen Art Himmelsleiter zu erklimmen, bevor sie auf den Boden der Tatsachen zurückfallen und sich so ineinander verknäueln, dass sie sich kaum noch voneinander unterscheiden lassen: eine bizarre Szene mit einem doppelköpfigen Körperkollektiv, das immer wieder wieder beängstigende Blickkontakte mit dem (nicht wirklichen vorhandenen) Zuschauer herzustellen sucht. Ohne allzu konkret zu werden, wandelt sich immer wieder die bodenständige Choreografie und lässt, wiewohl von einem Röhrensegment auf unterschiedliche Weise begrenzt, viel Raum für die Fantasie jedes Einzelnen.

Das ist auch bei „Kick the Bucket“ nicht anders, einem Duo aus dem Jahr 2011. Pérez problematisiert hier ein Schubladendenken, das leicht zu Zuordnungen verleitet. Dabei ist keineswegs ausgemacht, wer hier eigentlich die Oberhand behält: Yi-Wei Lo oder Kuan-Ying Su? Ob Mann oder Frau, das ist hier unerheblich. Ist es am Anfang Kuan-Ying Su, der seine redselige Partnerin zu bändigen sucht, hat man am Ende umgekehrt den Eindruck, als ob sie ihn gängelt. Alles bleibt hier fortwährend Fluss, und das Geben und Nehmen funktioniert hier wie eine einzige Bewegung: immer dicht am Boden, sehr assoziativ und zwischendurch überraschend, wenn Kuan-Ying Su aus der zeitweiligen Domina ein befreiendes Gelächter heraus kitzelt.

Andrea Muelas Blanco, Inés Belda Nácher, Orla McCarthy, Foto Susanne Reichardt
Kuan-Ying Su, Yi-Wei Lo, Foto Susanne Reichardt

„Crash“ nennt Astrid Boons ihre Uraufführung, die wie Iván Pérez viel am Korzo Theater in Den Haag gearbeitet hat. Und „Crash“ bezieht sich nicht nur im Titel auf einen Systemabsturz, der einen gerade in Corona-Zeiten in Verzweiflung treiben kann. Die Szene hat denn auch etwas Apokalyptisches, und die sieben Tänzer und Tänzerinnen brauchen ihre Zeit, bis sie, von der schlagkräftigen Musik Miguelángel Clerc Paradas angetrieben, wieder auf die Beine kommen. Die Choreografie lässt einen nicht unbedingt an eine Computersimulation denken. Wenn Andrea Muelas Blanco aus dem Zentrum eines reinen Männerensembles heraus robbt und der Gruppe auf einmal die weibliche, und das heißt hier: die stabile Mitte fehlt, kommt einem unwillkürlich die längst nicht ausdiskutierte Gender-Thematik in den Sinn. Wie auch immer: Am Ende des Boons-Beitrags steht jedenfalls ein versöhnliches Solo, das eigentlich ein Duo ist. Denn Orla McCarthy tanzt mit ihrem Schatten, und das ist so schön, dass man darüber die Krise fast vergisst.

Hartmut Regitz

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