Jedes der beiden Werke für sich allein ist schon eine Sensation. Zu einem Abend gebündelt, ergeben sie grandiose 65 Minuten Tanz: Jiří Kyliáns Choreografie 27’52” aus dem Jahr 2002 und The Big Crying, dem jüngsten Werk von Marco Goecke, fügen sich so organisch zum Doppelabend Souls made apparent zusammen, als ob sie füreinander gemacht wären. Das ist insbesondere dem gemeinsamen Nenner zu verdanken: dem NDT 2, der Junior Company des Nederlands Dans Theaters mit Sitz in Den Haag. Die 19 Tänzerinnen und Tänzer präsentieren die zwei tanztechnisch hoch anspruchsvollen und darstellerisch sehr herausfordernden Werke mit überbordender Kraft und Differenziertheit – und genau das brauchen die beiden Stücke auch.
In diesen Zeiten sind die Sichtbar gemachten Seelen natürlich ausschließlich als Stream zu erleben, doch die Intensität der Tanzenden schafft den Sprung von der Bühne durch den Bildschirm zum indirekt anwesenden Publikum. Auch technisch kann der Live-Stream nahezu reibungslos aus den Niederlanden weltweit zugänglich gemacht werden.
Zu Beginn fängt die Totale den Raum ein und definiert damit den Rahmen. Ein paar verlorene Töne schwirren über die Bühne. Ihnen folgen sechs TänzerInnen, ähnlich orientierungslos, in einer Art Warm-Up. Nach dieser Einleitung steht ein Paar im Fokus, deren tanzende Körper nur vom Hals abwärts zu sehen sind, denn überraschend senkt sich wie aus dem Nichts von oben eine bewegliche, weiße Trennwand vor ihnen herab. Aus großer Nähe und geradezu intimen Gesten entwickelt sich zwischen den beiden eine zunehmende Distanz, so erkundet er beispielsweise ihren Körper, indem er mit seiner Hand in einem Abstand von rund zehn Zentimetern ihre Konturen nachzeichnet. Die akustische Ebene dominiert sodann eine männliche Stimme, ein Gedicht zitierend, während der männliche Part des (nun nicht mehr existierenden) Paares zum rückwärts abgespielten, jetzt unverständlichen Text ein Solo zelebriert. Sie ist zuvor in eine hintere Ecke geflohen, wo sie einen breiten Streifen des weißen, ebenfalls weichen Bodenbelags hochhebt. Er folgt ihrem Beispiel – und sie wendet sich einem neuen Mann zu.
Diese Motive werden im Folgenden variantenreich wiederholt: Die Musik von Dirk Haubrich wurde für dieses Werk komponiert, er lässt sich durch die Ur-Version von Gustav Mahlers 10. Sinfonie zu einer Bearbeitung inspirieren. Hinzu kommt immer wieder gesprochener Text in deutscher, englischer und französischer Sprache, jeweils vor- und rückwärts ablaufend, und der biegsame Bodenbelag wird auf verschiedene Weise einbezogen – als Schutzschild, Umhang, Grenze, unüberwindliches Hindernis oder auch, um sich darunter zu verstecken. Einem Paar zieht es konkret den Boden(Belag) unter den Füßen weg, doch sie reagieren spielerisch und wissen sich mit Sprüngen und Gewichtsverlagerungen zu retten. Das finale Pas de Deux, in dem Mann und Frau mit nacktem Oberkörper tanzen, bekommt durch ihre Barbusigkeit, aber auch aufgrund sanfter Berührungen an den Oberschenkeln eine erotische Konnotation. Schließlich klatschen mit lautem Knall lange Streifen des Bodenbelags aus dem Schnürboden auf die Bühne – die Welt ist und bleibt unberechenbar. Davon erzählen auch die wechselvollen Beziehungen in Kyliáns Choreografie: Die einzig verlässliche Größe in unserem Leben ist Unsicherheit.
Nach einer Pause von wenigen Minuten beginnt die Uraufführung von Marco Goeckes The Big Crying mit einem Feuer: Flammen züngeln am oberen Ende eines Stabs im Bühnenhintergrund. Vorne steht ein Mann, mit dem Rücken zu Publikum. Nach und nach hasten einzelne Menschen aus der Dunkelheit hinter dem Feuerstab auf ihn zu, bespringen ihn und huschen alsbald zurück in das Schwarz der Bühnentiefe. Erst wenig später sind individuelle Gesichter und die einheitliche Kleidung zu erkennen: schwarze Hosen und ein Oberteil, das aus unzähligen schmalen schwarzen Streifen besteht. Musikalisch dominiert die US-amerikanische Singer-Songwriterin Tori Amos, die den Tanz mit fünf Songs begleitet und die weiteren Musikstücke fast vergessen macht. Zu ihren Blood Roses wuseln die Tanzenden in rasantem Tempo auf die Bühne und wieder zurück ins Dunkel, sodass man an lichtscheue Spinnen denken muss, obwohl alle sich auf zwei Beinen bewegen. Goeckes typische Staccato-Bewegungen scheinen hier im Tempo so gesteigert, dass alles Menschliche von den 19 TänzerInnen abfällt, mitunter wirken sie wie flinke Insekten, dann in stark reduzierten Gesten wie undefinierbare zappelnde dunkle Materie.
Doch sobald lautlose Schreie und stummes Lachen ihr Gesicht beherrscht, sind sie als individuelle Persönlichkeiten wahrnehmbar. Nur um bald darauf wie eine Horde Moleküle zu wirken, die sich nicht recht zum Andocken an verwandte Teilchen entschließen können. Goeckes Körpersprache erfordert ein Höchstmaß an Kontrolle und zeitlicher Präzision, und doch lässt er seine Protagonisten aussehen, als hätten sie jegliche Beherrschung verloren. Abstoßen und Anziehen endet zu einem akustischen Rauschen. Zum Schluss steht wiederum ein Mann mit dem Rücken zum Publikum, während Einzelne ihn mit liebevollen oder flüchtigen Gesten berühren. Der Feuerstab kehrt zurück, und in der letzten Szene sitzt ein Tänzer auf dem Boden, während er den Oberkörper vorneigt und wieder aufrichtet – die meditative Ruhe der Bewegung steht in krassem Gegensatz zu seinem weit aufgerissenen Mund.
Ob man Crying mit Schreien oder eher mit Weinen übersetzt – beides hat einen stimmigen Bezug zur Choreografie. Deren Ursprünge gehen zurück auf den Herbst 2020, kurz nachdem Marco Goeckes Vater verstarb. Aus dieser Kausalität macht der Choreograf gar keinen Hehl. Die ruckartigen Bewegungen und die Verkrampfungen der Gliedmaßen lassen mitunter den Eindruck entstehen, als lösten sich die Körper im Schmerz auf. Ein äußerst eindringliches Werk, das eine ebenso große Faszination wie Verstörung zurücklässt.
Dagmar Ellen Fischer