„Achtung! – Kamera ab! – Und Action!“ Film ist das neue Tanzerlebnis live. Eine experimentelle Innovation, die situationsbedingt zunehmend um sich greift. Befeuert durch künstlerischen Tatendrang in restriktiven Zeiten. Je länger die Theaterhäuser geschlossen sind und Tanzkompanien in toto die Ausübung ihres Berufs auf der Bühne vor Publikum verboten bleibt, desto findiger werden Choreografen bei der Adaption bzw. Ummodelung ihrer Arbeiten für von zuhause zugängliche Portale. Durch medial interaktive Kooperationen erhöhen sich zudem Verbreitungsgrad wie -radius.
Erinnert sei an das Augsburger Ballett, das seit Ausbruch der Pandemie und den damit einhergehenden Lockdowns zwei dreidimensional erfahrbare, höchst originelle Projekte für VR-Brillen vorlegte. Darunter Ravels „Bolero“, bei dem sich die Tänzerinnen und Tänzer in quasi raumlos-beweglichen, nach vorne offenen Einzelboxen tänzerisch ausleben. Optisch einfallsreich begleitet von diversen, bisweilen halluzinatorisch-farbigen virtuellen Effekten. Das in Deutschland derzeit noch einzigartige Segment dieser gespeicherten Inszenierungen kann über einen bundesweiten Verleih-Service nach wie vor gebucht werden. Ganz schön breitenwirksam. Die lediglich gestreamte Ballettpremiere „Winterreise“ steht im Pay-per-View-Verfahren über die Theaterwebsite des Staatstheaters Augsburg zum Abruf bereit. Vergleichbar zahlreichen anderen solcher Angebote.
Auch Goyo Montero mit seinem Staatstheater Nürnberg Ballett ist aufgrund abgesagter Premierentermine für sein Tanzstück „Über den Wolf“ in Zusammenarbeit mit dem Bayerischen Rundfunk vergangenen Dezember erstmals in das Format Film als eigenständiges Kunstprojekt eingestiegen. Bis seine Crew wieder live auftreten darf, vermag der von Hans Hadulla einfühlsam regierte Ballett-Film – dem späteren Bühnenerlebnis vorgreifend – entstehungsbezogene wie generell inhaltliche Erkenntnisse zu vermitteln. Kein schlechter Einfall des Spaniers Montero, eine bekannte Werkvorlage – wie hier Prokofjews Kinderklassiker „Peter und der Wolf“ – mit ganz eigenen, meist eher schwarz-düsteren, von Angst und Dämonen gespickten Reflexionen über das Sein zu etwas total Neuem zu verweben. Ergreifend. Das macht ihm so schnell keiner nach.
Damit eines seiner Stücke durch die Verfilmung eine eigens konzipierte, andersartige Wirkkraft entfalten kann, hat Demis Volpi für die Sendepremiere am 5. März eine spezielle Fassung von „A simple piece“ entwickelt. Erst auf der Bühne mit geschlossenem Eisernen Vorhang, dann nach dessen Heben vor leerem Zuschauerraum und mit – leider – zwiespältigem Erfolg. Immerhin: Zum ersten Mal überhaupt präsentiert die renommierte, rein digitale Opern- und Ballettplattform operavision.eu eine zeitgenössische Choreografie. Hoffentlich ein von Düsseldorf aus angestoßenes Auftaktfeuer, das nicht sofort wieder verglimmt! Bei Volpis Halbstünder, den man kostenfrei noch bis 5. Juni 2021 ansehen kann, handelt es sich um ein interessantes, wenngleich nicht durchweg innovatives Experiment. Dem von Beginn seines Amtsantritts als Ballettdirektor und Chefchoreograf des Balletts am Rhein durch pandemische Verordnungen arg Gebeutelten kann man’s nicht verübeln.
Uraufführung hatte das coronakonforme Stück – mathematisch-komplex in seinen minimalistischen Bewegungsabläufen in die nüchtern-leere Bühnenweite der Deutschen Oper am Rhein hinein komponiert – bereits am 15. Oktober letzten Jahres im Rahmen des Abends „Far and near are all around“ („Umgeben von Ferne und Nähe“). Damals – flankiert von einer zweiten (Gast-)Kreation – eigentlich die erste veritable Ballettproduktion des nach Martin Schläpfers Weggang neu aufgestellten Ensembles. Vor 250 zugelassenen Personen pro Vorstellung ein kurzes analoges Präsenz-Zwischenspiel, wie wir heute wissen. On Stage: acht auf Abstand ganz konzeptionell sich und einem finkeligen System von Zählzeiten ausgesetzte Interpreten. Angetreten von Beginn an in streng formaler Aufstellung, bei der jeder Einzelne – scheinbar wie von unsichtbarer Macht – an seinem Platz regelrecht verwurzelt bleibt.
Den Entschluss, mit dem Werk „digital zu gehen“, fasste Volpi ziemlich unmittelbar nach der erneuten Opernschließung. Genug Freiraum für weitere aufwändige Proben gab es ja. Dabei sieht man die zusätzlich investierte Arbeit der Leichtigkeit, die die Filmversion verströmt, gar nicht an. Souverän bis in die Mimik hinein gibt die Kompanie ihr Bestes. Die Zahl der Tänzerinnen und Tänzer wurde von Volpi nun auf 16 verdoppelt. Alle hyper-retro-modisch ausstaffiert mit Carola Volles’ Kostümen wie durchscheinend weiße, blusige Tops und steif-elegante, von der Taille an breit abfallende Arbeiterhosen – nach Fotografien von Peter Lindbergh im Unisex-Style. Aus den grob geschlitzten Taschen rieselt im Fluss der Moves rostfarbenes Laub. Es könnten auch bloße Schnipsel sein, die dem hellen Boden allmählich eine herbstliche Patina verleihen. Ganz genau erschließt sich das dem Zuschauer am Bildschirm nicht.
Gemeinsam mit dem Düsseldorfer Filmemacher Ralph Goertz musste eine für den Betrachter unsichtbare, aber innerhalb der Aufführung mögliche Wegführung für die Kamera in die Choreografie integriert werden. Angesichts der um so viele Körpereinheiten erweiterten Ensemblestruktur eine Herausforderung. Zudem wollte man dem Prinzip des „One Take“ gerecht werden, also einem Durchlauf ohne Schnitte oder optische Unterbrechungen. Ein Coup, der dem Publikum suggeriert, selbst mitten drin im Geschehen und bisweilen bahnbrechend nah an den Interpreten dran zu sein. Passagenweise gelingt das tatsächlich sehr gut. So nah bekommt das Auge Tanz und Tänzer sonst kaum zu sehen. Im Gegenzug wird dem Rezipienten wesentlich mehr Konzentration in puncto Orientierung abverlangt, das „Hineinsacken“ in die ungewohnte Seherfahrung fällt teilweise schwer. Denn die eigentliche Werkanmutung wird durch den stetig wandernden Blick der Kameralinse quasi verbogen oder gar schlichtweg zerhäckselt, die Synchronizität minutiös ausgearbeiteter feinmotorischer Details in den Bewegungen der Arme, Hände und Beine wirkt wie zerschossen.
Wenn choreografische Elemente plötzlich in schneller Folge aus unterschiedlichen Richtungen zu sehen sind, mutet das dann fantastisch an oder eher verwirrend? Ein solches Hin und Her zwischen echter oder bloß filmisch erzeugter personeller Leere und Fülle belässt die tatsächlichen Raumgegebenheiten lange im Unklaren. Wo genau ist Vorne – geschlossener Eiserner Vorhang – und Hinten – eine Art gewellte, blecherne Garagentorwand? Immer wieder rotiert die Perspektive um bestimmte Tänzer oder Schrittmuster. Vieles, allzu vieles gerät in den Kamerafokus: ein Lächeln, das weiche, raumgreifende Armwedeln oder die Art der Statuarik im oft kollektiv ausgeführten Plié der Akteure. Gelegentlich mag man sich wie im Bauch eines Schiffs bei mittlerem bis starkem Seegang fühlen. Im Analogen könnte man dieses Phänomen freilich kaum erzeugen. Nichtsdestoweniger haftet dem Ganzen ein durchaus origineller Reiz an.
Die Choreografie wird akustisch von der „Partita for 8 Voices“ gesteuert – ein überaus eindrückliches viersätziges A-cappella-Stück der Amerikanerin Caroline Shaw, für das die junge Komponistin 2013 mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet wurde. Gesungenes, Gesprochenes, Geschrieenes, Gesummtes, Gemurmeltes und Atmer in heftigen wie lauten Stößen summieren sich zu kanonartigen Patterns und Verschiebungen. Sonore, kontrastreiche Merkwürdigkeiten, die ihre Ursprünge im tuwinischen Obertongesang bzw. im geräuschvollen Kehlkopfgesang der Inuit haben. Diesen Klangteppich voller melodischer und rhythmischer Vielfalt hat Volpi in „A simple piece“ zum sinnlichen Dialogpartner seiner eher abstrakt agierenden Protagonisten gemacht. Dabei ruft vor allem Shaws ständig präsente Klangwolke in der am 29. Januar in der Deutschen Oper am Rhein aufgezeichneten Filmversion einen beeindruckenden Mysto-Grusel hervor.
1.468 Aufrufer verfolgten laut Ticker die Erstausstrahlung. Die Sehnsucht, endlich mal wieder Tanz am angestammten Ort zu sehen, konnte zwar nicht vergessen gemacht werden, der ferne Blick zumindest auf einen Teil der neuen Kompanie war aber eindrücklich schön. Vor allem gegen Ende kam Stimmung auf, wenn Volpi und Goertz den Eisernen Vorhang hochgehen lassen und so den Blick über die Rampe hin auf den verwaisten Zuschauerraum freigeben. Sonnenuntergangsrot-glühende Lichtcues von Volker Weinhart entlang der Ränge übernehmen dort die emotionale Staffel von den Tänzern und rühren – endlich! – das Herz.
Vesna Mlakar