Headspins im Knusperhäuschen
„Flying Hänsel und Gretel“, die neue Show der Flying Steps aus Berlin
von Angela Reinhardt
Mit „Flying Bach“ fing es 2010 an – die Flying Steps aus Berlin, Deutschlands Breakdance-Urgestein, machen seitdem den Street Dance in Groß- und Kleinstädten, in Kirchen und Stadthallen salonfähig und beweisen der Szene, dass man hauptberuflich vom Breakdancen leben kann. Damals tanzten sie zu den Fugen aus Johann Sebastian Bachs „Wohltemperiertem Klavier“, und das dermaßen erfolgreich, dass sie bis heute mit dem Stück auf Tournee sind. Mit der surrealen Zaubershow „Flying Illusion“ füllten sie dann die ganz großen Hallen, mit „Flying Dreams“ waren sie im Varieté, in „Flying Pictures“ ließen sie sich im Museum von Modest Mussorgskys „Bilder einer Ausstellung“ inspirieren. Und jetzt sind sie mit ihrer neuen Produktion im Knusperhäuschen gelandet, versetzen das alte Märchen von Hänsel und Gretel in die Influencer-Szene. Premiere war im Oktober im Berliner Admiralspalast, seit Mai ist die neue Show auf großer Tour, zunächst durch Deutschland, dann in China und im Herbst in Österreich.
Hungern muss hier keiner mehr, so wie im alten Märchen der Brüder Grimm, und ausgesetzt wird auch niemand – nach Stress mit ihren Eltern über die Nutzungsdauer digitaler Endgeräte hauen die beiden Geschwister selbst von Zuhause ab. Sie hängen im Großstadtpark rum und landen schließlich in der digitalen Welt, verirren sich in den sozialen Medien – statt nach Süßigkeiten hungern sie nach immer neuem Content. Die böse Hexe ist eine todschicke, eiskalte Influencerin mit Krallen aus Brillanten, sie schreitet mit elegantem Voguing einher…
Wie schon bei „Flying Bach“ schlägt der musikalische Leiter Christoph Hagel eine Brücke zur Klassik, er spielt ein Best-of aus Engelbert Humperdincks Oper „Hänsel und Gretel“ am Flügel. Die bekannten Melodien wie „Brüderchen, komm tanz mit mir“ oder „Ein Männlein steht im Walde“ werden von den Sopranistinnen Alessia Schumacher und Antonia Schuchardt gesungen, Schumacher spielt auch die liebevolle Mutter der Kinder. Der Beatboxer Daniel Mandolini ist ihr Vater und mit seinen eigenwilligen Reimen gleichzeitig der Erzähler. Seine mundgemachte Rap-Musik ertönt auch mal aus dem Parkett, wo die Eltern zwischen den Reihen ihre Kinder suchen. Als scharfen Kontrast zu den Kinderliedern gibt es Hip-Hop-Musik, die Brüder Vivan und Ketan Bhatti haben einen Soundtrack aus Humperdinck, „The Sound of Music“ oder Michael Bublé zusammengestellt, der perfekt zu den jeweiligen Szenen passt. Das wirkt anfangs eher inhomogen, fast wie eine Nummernrevue; später aber machen die ironischen Kontraste viel Spaß, etwa wenn nach dem schönen „Abendsegen“ oder „Knusper Knusper Knäuschen“ wieder harte elektronische Rhythmen reinknallen.
Gespielt wurde im Stuttgarter Hegelsaal auf einer komplett leeren Bühne, raffinierte Weiß-auf-Schwarz-Projektionen zeigen Innenräume oder Großstadtstraßen, saugen die Kinder schließlich in Computerwelten à la Minecraft, wo ihre digitalen Brotkrumen den blauen Fußwegen aus Google Maps ähneln. Geradezu unheimlich beleuchten die Displays die Gesichter der versammelten Handy-Abhängigen, werden immer greller. Im Palast der bösen Hexe wird dann raffiniert mit den Ringlichtern getanzt, die man für Handyvideos auf Instagram benutzt, statt in Rauch geht der „Ofen“ in überdimensionalen Flammen-Emojis auf.
Acht großartige Tänzer und Tänzerinnen spielen Großstadtwölfe und die hippe Generation Z, sie zeigen mit feinstem Tuning die ganze Stilvielfalt des Urban Dance von den virtuosen Schrauben des Breakdance (Amin Mohammadian beschleunigt seine Headspins rasant und verzögert sie bis zum unglaublichen Stillstand) über das Voguing der eleganten Oberhexe Angélique Mimi bis zu den individuellen Soloeinlagen ihrer coolen Assistentinnen Luwam Russom und Cindy Martinez. Auch Louis Buß, Roman Varava und Julia Poguliaka zeigen großartige Solos oder sie werden im perfekten Unisono zur fäusteschleudernden Background-Begleitung bei den Starauftritten der Influencerin. Gretel alias Alina Kobyliak wird durch Elemente aus dem Modern Dance charakterisiert, manchmal blitzt gar ein Hauch Ballett auf, Dmitrii Belonogov rotiert als rebellischer Hänsel derart wild auf dem Boden, dass er die bösen Wölfe an die Wand tanzt. Der Head Choreographer der Show ist Daniel Asamoah, weitere Nummern stammen von Jeffrey Jimenez, Louis Becker, Kobyliak und Russom.
Natürlich retten die Eltern ihre handysüchtigen Kinder zum Schluss aus dem Selfie-Schloss des hemmungslosen Selbstanpreisens. Der Vater spricht den weisen, sicher komplett nutzlosen Satz „Die wahre Freiheit heutzutage bedeutet: offline sein“. Immerhin hat „Flying Hänsel und Gretel“ die Zuschauer für 80 Minuten von ihren Bildschirmen weg ins Theater gelockt und ihnen eine Ahnung von Engelbert Humperdincks wunderschöner Opernmusik vermittelt. Die enorme Vielfalt des urbanen Tanzes erobert weiter die Säle, aber was in Frankreich schon sehr lange auf den subventionierten Bühnen, in den national geförderten Kompanien angekommen ist, das fällt bei uns immer noch unter Show und Unterhaltung. Vielleicht müssten sich die Tempel der Hochkultur doch viel weiter in diese Richtung bewegen, samt ihren programmierenden oder choreografierenden Gralshütern.