© Kiran West
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Interview John Neumeier zum Beethoven-Jahr

 Liebe Leser,
die Verbreitung des Coronavirus fordert uns alle enorm heraus, gerade deshalb müssen wir jetzt gemeinsam agieren, um die Krise bestmöglich zu bewältigen.  Das Interview mit John Neumeier wurde von Viola Gräfenstein schon vor der Corona-Krise geführt. Wir veröffentlichen nun kostenfrei das schöne Interview, um Ihnen allen in diesen trüben Zeiten ein wenig Freude zu spenden. Wir hoffen alle, dass es im Oktober und vorher schon, mit Beethoven weitergeht.
Das  gesamte Team von Dance for You Magazine wünscht Ihnen viel Kraft und Hoffnung, bleiben Sie gesund!

 

John Neumeier © Kiran West

John Neumeier: „Choreografieren ist, als würde ich einen Berg ersteigen“

Zum 250-jährigen Geburtstag von Ludwig van Beethoven hat sich der Hamburger Choreograf John Neumeier mit dem Bonner Komponisten beschäftigt. Er choreografierte das „Beethoven-Projekt“, die „Beethoven Dances“ und plant das Ballett „Beethoven 9“.

Herr Neumeier, Sie haben das Beethoven-Projekt, Ihr 160. Ballett, choreografiert. Warum gab es bisher kein eigenes Stück von Ihnen zu Beethoven?

Auf diese Frage habe ich keine eindeutige Antwort. Als ich in der Vergangenheit die eine oder andere Beethovensinfonie gehört habe, kam immer wieder der Gedanke, dass es an der Zeit wäre, etwas zu diesem Komponisten zu choreografieren. Aber dann kamen andere Projekte dazwischen, die mich stärker inspiriert und interessiert haben. Doch mit Blick auf das große Beethoven-Jubiläum 2020 hatte ich das Gefühl, dass die Zeit dafür nun reif war.

Mit dem 40-jährigen Geburtstag Ihrer Ballettschule in Hamburg 2018 haben Sie eine Choreografie auf 40 Tänze von Ludwig van Beethoven für Ihre Schüler kreiert. Wie kam es dazu?

Gigi Hyatt, die pädagogische Leiterin der Ballettschule Hamburg fragte mich, ob ich nicht etwas Besonderes für diesen Anlass machen könnte. Während meiner Recherche zum „Beethoven-Projekt“ habe ich die Musik für viele kurze Tänze für Bälle von Beethoven entdeckt. Ich habe mich für 40 Tänze, ein Tanz für jedes Jahr, für die Jubiläumsaufführung der Ballettschule entschieden.

Gleichzeitig entwickelten Sie beim Durchhören seines Gesamtwerkes Ihr „Beethoven-Projekt“?

Beim Durchhören der Tänze habe ich ein Thema entdeckt für einen Kontratanz, der circa 45 Sekunden dauert und der Beethoven anscheinend sehr beschäftigt hat. Er hat das gleiche Thema in seinem Ballett „Die Geschöpfe des Prometheus“ eingebracht, das ich schon vor vielen Jahren choreografieren wollte. Das Thema war liegt auch den ambitionierten Klaviervariationen op. 35 zugrunde, und es bildet das Hauptthema im Finale der Eroica-Sinfonie. Ich empfand das als interessanten Faden, den ich weiterverfolgen wollte.

Beethoven-Projekt © Kiran West
Aleix Martinez probt mit John Neumeier und Lloyd Riggins

 Wie haben Sie sich Beethoven als Komponisten und Menschen genähert?

Hauptsächlich, indem ich die Musik gehört habe. Ich habe natürlich auch viel über Beethoven gelesen und versucht, mir ein Bild von dem Menschen zu machen. Durch das starke Formgefühl, das diese Stücke auszeichnet, hat sich mir eine emotionale Seite von Beethoven gezeigt. Wenn man schon etwas über sein Leben weiß und versucht, einen Komponisten genauer zu begreifen, dann ändert sich das oft, sobald man seine Musik hört. Es gibt Künstler, die ich überhaupt nicht als Menschen kenne, wie zum Beispiel Johann Sebastian Bach. Ich könnte nicht sagen, wann er geboren oder wann er gestorben ist. Ich habe nie ein Buch über ihn gelesen, weil die Musik in ihrer „absoluten“ Aussagekraft für sich bestehen kann. Bei Beethoven war es etwas Anderes – auch, weil ich mir nicht ganz sicher war, wie ich an das Thema herangehen sollte.

Das „Beethoven-Projekt“ enthält im ersten Teil Stationen seines Lebens und zeigt den Komponisten als Menschen in seiner Widersprüchlichkeit und Genialität. Inwiefern war Ihnen das wichtig?

Das Ballett ist kein persönliches Porträt über Beethoven, sondern eine Reaktion auf seine Musik. Ich habe sehr lange an dem Ballett gearbeitet, aber es hat sich nach keinem Plan entwickelt, sondern aus den Erfahrungen, die ich nach Proben mit den Tänzern und den anderen Musiken, die hinzugekommen sind, gemacht habe. Es soll vorrangig als sinfonisches Werk betrachtet werden, in dem die Musik die auftretenden Figuren, Handlungen und Beziehungen bestimmt.

Wie haben Sie Ihre Tänzer auf Beethoven vorbereitet?

Ich habe den Tänzern keinen Vortrag über Beethoven gehalten. Ich gehe von der Emotion einer Situation aus und versuche, durch Bewegung eine parallele Ebene zu finden. Es ist nicht wie ein Rezeptbuch, das man liest, wenn man einen Kuchen backen will. Die beste Art, wie ich ein Ballett mache, ist, mit Musik Situationen zu improvisieren, damit eine eigenständige Aktion entsteht. Zum Beispiel gibt es ein Pas de deux, das die Beziehung Beethovens zu seiner Mutter darstellt. Ich habe der Tänzerin nie gesagt, dass sie die Mutter von Beethoven ist. Das muss durch die Choreografie klar werden. Nachher, wenn etwas entstanden ist, kann man über Details und mögliche, historische Bezüge sprechen – aber nicht vorher.

Aleix Martinez, Ensemble © Kiran West
Aleix Martinez © Kiran West

Woher wussten Sie, dass Aleix Martínez als Beethoven die inneren Widersprüche des Komponisten so gut wiedergeben kann?

Ich kenne seine Fähigkeiten, aber dass er so genau die Widersprüchlichkeiten Ludwig van Beethovens darstellen kann, wusste ich erst im Prozess der Kreationsproben. Es hat sich so entwickelt – und wiederum: ohne darüber zu sprechen. Eigenschaften Beethovens, über die man liest, wurden nicht direkt übersetzt. Vielmehr mussten wir andere dynamisch-physische Wege gehen, um sie uns zu erarbeiten. Das hat Aleix instinktiv verstanden. Wir haben erst viel später über Beethoven gesprochen. Man sieht an der Kombination aus seiner Technik und der Art, wie er durch Emotionen angetrieben die Rolle interpretiert, wie gut Aleix als Tänzer ist. Das ist sehr faszinierend.

Ihr Ballett ist eine Mischung aus Kammer- und Orchestermusik und setzt sich aus Fragmenten zusammen. Was wollten Sie damit bewirken?

Ich denke nicht ans Bewirken. Das ist für mich kontraproduktiv. Ich möchte etwas erschaffen, das noch nicht da war. Ein Werk, das mich berührt. Man kann nur etwas machen, das einen selbst bewegt und es mit seinen Kenntnissen, Gefühlen und seiner Technik in eine Form bringen, die möglicherweise die gleiche Wirkung auf das Publikum hat.

Welche Bedeutung hat Humor für Sie?

Für mich bedeutet Humor sehr viel. Ich liebe meine Arbeit und während meiner Proben mache ich gerne Scherze. Ich glaube, dass Beethoven auch ein wenig so war. Das zeigen auch seine legendären letzten Worte vor seinem Tod „Applaus, Freunde, die Komödie ist beendet“. Als ich mich zu einem Projekt über Beethoven entschloss, stand für mich von Vornherein fest, dass Humor ein wesentlicher Teil des Bildes von diesem Künstler sein müsste.

Beethoven Dances – Erste Schritte © Kiran West

Beethoven hat mit dem inneren Ohr komponiert, weil er später taub wurde. Wie sehen Sie seine Taubheit für sein Werk?

Da ich kein Musikwissenschaftler bin, kann ich das nicht sagen, aber mich beeindruckt es sehr, weil ich mir nicht vorstellen kann, blind zu sein und trotzdem weiter zu choreografieren. Ich kann mir vorstellen, zu Musik zu improvisieren und dass jemand nachmacht, wie ich mich als Tänzer bewege. Aber eine Choreografie zu orchestrieren, ohne sie zu sehen – das ist für mich unvorstellbar. Ich muss in dem Prozess immer etwas ausprobieren und dann wieder verwerfen können, weil es anders besser sein könnte. Insofern beeindruckt mich Beethovens Fähigkeit enorm, ohne Gehör zu komponieren.

Sie selber hatten während der Proben für das Beethoven-Projekt Probleme mit Ihrem Ohr?

Das ist richtig. Als ich am Theater an der Wien war, wo Beethoven selbst auch eine Zeit lang wohnte und wir für das Werk probten, hatte ich auf einmal ein Problem mit meinem Gehör. Das war schon ein seltsamer Zufall.

Worin sehen Sie Beethovens größte Stärke für seine und für die heutige Zeit?

Mich fasziniert Beethovens Balance zwischen Emotionen und musikalischer Form, die er weiterentwickelt hat. Ich denke, dass nicht nur private Emotionen dafür wichtig waren, beispielsweise seine Sehnsüchte, die er unglaublich bewegend in Musik umgesetzt hat. Es sind auch seine politischen Gedanken, die mich faszinieren. Diese Dinge zeichnen ihn als Künstler aus und machen seine Musik unverwechselbar.

Im Dezember gibt es eine neue Choreografie von Ihnen zu Beethovens Neunter Sinfonie. Welchen Schwerpunkt werden Sie choreografisch setzen?

Das kann ich überhaupt noch nicht sagen, ich muss mich erst noch ausführlich damit beschäftigen. Für mich kommen die Antworten bei der Arbeit – besonders im Ballettsaal. Ich schreibe nur selten etwas auf und wenn, dann verwerfe ich vieles wieder. Das Wichtigste und Schönste geschieht oft am Beginn einer Probe: in einem Moment, in dem etwas passiert, was man nicht erwartet und geplant hat.

Inwiefern ist es für Sie wichtig, Beethovens Musik auch an Kinder heranzutragen?

Grundsätzlich ist es wichtig, dass junge Menschen schon früh die Werke großer Komponisten kennenlernen. Auch meine Schülerinnen und Schüler der Ballettschule sollen die Möglichkeit haben, einem Genie wie Beethoven musikalisch zu begegnen. Im Lehrplan für die siebte und achte Klasse ist das Fach Tanzkomposition fest verankert. Alle müssen ein Stück choreografieren und bekommen zum Abschluss dafür eine Note. Es ist immer interessant zu sehen, welche Musik sie dazu auswählen und was sie daraus machen.

Beethoven hatte eine Idee und machte daraus ein Feuerwerk. Gibt es für Sie als Choreograf eine Parallele zu seinem Schaffensakt?

Ich kann nicht sagen, warum und was ich mache. Ich kann nur sagen, dass ich einfach mit etwas beginne. Es ist eine Intuition, ein instinktives Gefühl: In mir ist eine Neunte Sinfonie von Beethoven als Choreografie. Wie bei der Kreation meines Balletts „Matthäus-Passion“ zu Bachs Oratorium – 1981 war es für mich auch so. Es ist wie ein Berg, den ich ersteigen muss, und ich glaube, dass ich diesen Gipfel erreichen kann. Ich weiß nicht, welchen Weg ich nehme, aber ich habe das Gefühl, ich kann es schaffen.

Was würden Sie Beethoven fragen, wenn Sie die Möglichkeit dazu hätten?

Ich würde ihn nichts fragen. Viel eher würde ich mich bei ihm für seine schöne Musik bedanken.

Das Gespräch führte Viola Gräfenstein www.viola-graefenstein.de
Fotos Copyright: Kiran West 

Weitere Vorstellungen:

Beethoven-Projekt
April, 1., 6. Mai, 27. Juni 2020 (46. Hamburger Ballett-Tage); 19., 21., 29., 30. Mai, 16. Juni 2021 (47. Hamburger Ballett-Tage) | Staatsoper Hamburg, Dammtorstraße 28, 20354 Hamburg
25., 26. Oktober, Opernhaus Bonn, Am Boeselagerhof 1, 53111 Bonn
3., 4. Juli 2020 (neu arrangiert unter dem Titel „Eroica“, Spoleto)
3., 4. Mai 2021 (Theater an der Wien)

 Beethoven 9

Premiere A: 13. Dezember 2020, Premiere B: 15. Dezember 2020
17., 19., 29., 31. Dezember 2020; 2., 3. Januar, 17. Juni 2021 (47. Hamburger Ballett-Tage) | Staatsoper Hamburg, Dammtorstraße 28, 20354 Hamburg
8., 9. Mai 2021 (Theater an der Wien)

Mehr Infos: Hamburg Ballett Online https://www.hamburgballett.de