Alle Fotos: Tanztheater Wuppertal Nina Bausch. ©Reiner Pfisterer
Kritiken

Zu gutbürgerlich?

Das Wuppertaler Tanztheater zeigt Pina Bauschs „Kontakthof“ wieder

Hätten sie nicht heute allesamt ihre Mobiltelefone in der Hand und würden ihre privatesten Dinge direkt auf Facebook posten, diese gutsituierten Herren und Damen? Anstatt ihre Sehnsüchte und Enttäuschungen so unfreiwillig bei einem Tanztee im alten Stadthallensaal zu entblößen? 43 Jahre alt ist Pina Bauschs „Kontakthof“, mit dessen Wiederaufnahme das Tanztheater Wuppertal bei den Ludwigsburger Schlossfestspielen gastierte – und die Welt hat sich verändert. Das zweckdienliche Ambiente, die dunklen Anzüge der Männer, die einfarbigen Hüllenkleider der Frauen, diese ständig scheiternden Beziehungsanbahnungen und das parodistische Hinterfragen eines angemessenen Benehmens in der Gesellschaft, all das bekommt heute doch ein wenig den Flair eines vergangenen Rituals – auch nachdem das Tanztheater sich seit Pina Bausch in sämtliche Richtungen erweitert hat, Grenzen überschritten und alles nur Mögliche in sich aufgesaugt hat.

Der Nostalgie-Effekt war in einem geringeren Ausmaß sicher schon bei der Uraufführung 1978 so beabsichtigt, allerdings sind seitdem so viele Schranken des guten Benehmens gefallen, hat sich das Verhalten der Menschen in der Öffentlichkeit derart verändert, dass vier Jahrzehnte dem Klassiker doch den gutbürgerlichen Boden unter den erstaunlich wenig tanzenden Füßen wegziehen. Das Stück setzt gesellschaftliche Verabredungen und tadellose Benimmregeln voraus, die es in dieser Art kaum mehr gibt, es zieht seine Moral aus dem entlarvenden Spiel mit ihnen und ihrem Zertrümmern. Heute ist man unempfindlich geworden, wenn Einzelne in der Öffentlichkeit die Fassung verlieren, weshalb das irre Gelächter, das Nackigmachen, das Herumschreien und die öffentlichen Geständnisse an Skandalträchtigkeit verloren haben.

Natürlich gibt es immer noch unschlagbare Bilder in „Kontakthof“: die von einer ganzen Männerhorde befummelte Frau, das Reiten auf dem mechanischen Kinderpferdchen, das hier höchst zweideutig zwischen Kindheitserinnerung und einer mechanisch-sexualisierten Bewegung changiert, oder der Kreis, aus dessen stets ins Publikum lächelnder, perfekt funktionierender Gesellschaft keiner auszuscheren wagt. Die zwei kokettierenden Nymphchen in zartrosa Schleierkleidern, die wie eine Erinnerung aus den 20er Jahren durchs nüchterne Bild springen, oder die plötzlichen, kraftvollen Gruppenbewegungen, wenn alle unisono auf die Rampe zusteuern. Großartig ist die Szene, wenn sie alle dicht an der Rampe sitzen und mit viel „Ich, ich, ich“ von ihren gescheiterten Beziehungen erzählen, in sämtlichen Sprachen der Erde. Beklemmend ist der trostlose Stehblues im hereinbrechenden Licht der Morgendämmerung, das Aneinanderklammern einsamer Menschen, die sich zuvor angebrüllt und geschlagen haben.

Aber Peinlichsein und gesellschaftliche Grenzüberschreitungen sind in den letzten Jahren geradezu eine Unterhaltungsmasche geworden, und damit hat wohl auch unsere Empathie für die Gedemütigten, die Sich-Gehenlassenden, die Aus-der-Fassung-Geratenden entschieden abgenommen. „Kontakthof“ ist ein Klassiker, den bereits Pina Bausch selbst variiert hat – im Jahr 2000 mit „Damen und Herren ab 65“ und 2008 für Heranwachsende. Die jetzige Wiederaufnahme des Tanztheaters Wuppertal liegt ein wenig merkwürdig in der Mitte: Die Damen scheinen aus der jüngeren Ausgabe zu stammen, die Herren eher aus der Seniorenversion. Gerade diese großen, schönen jungen Frauen wirken auf eine andere Weise unnahbar als die vergangenen Pina-Bausch-Generationen. Sind solche Frauen heute nicht viel stärker und frecher, als sie in diesem Stück noch gezeichnet werden, liegt unser Problem nicht darin, dass manche der Männer im Anzug heute einfach viel brutaler sind? Sind nicht einfach gesellschaftliche Konventionen weggefallen, die hier nur gekippt, zerrissen, parodiert werden können, weil sie 1978 noch galten und formvollendet aufrechterhalten wurden?

Vielleicht erfordert auch die Struktur der mosaikartig gereihten Szenen, eine kleine Nummer an die nächste, in Zeiten des multinationalen Überwältigungstheaters eine gewisse Langmut vom Zuschauer. Vielleicht reicht heute, wo das Tanztheater alles von Hip-Hop bis Butoh und Kathak in sich aufgesaugt hat, ein Bewegungsrepertoire nicht mehr aus, das sich auf Elemente des Gesellschaftstanzes und Alltägliches reduziert, dessen wichtigstes Feature damals war, dass es eben kein klassisches Ballett ist. Irgendwie muss es doch zu erklären sein, warum ein so monumentaler Klassiker wie „Kontakthof“ die Nachgeborenen nicht mehr umhaut.

Angela Reinhardt

Alle Fotos: Tanztheater Wuppertal Nina Bausch. ©Reiner Pfisterer