Das Mexikanische Nationalballett gastierte in Ludwigshafen
Ballett-Deutschland im Jahr 2021: Nicht der virtuose „Corsaire“-Pas-de-deux, nicht die helle Neoklassik auf Spitze, sondern eines der typisch dunklen, nervösen Werke von Marco Goecke rockt diese Ballettgala, mit der im Pfalzbau die diesjährigen Festspiele Ludwigshafen eröffnet wurden. Der Choreograf, der damals bei seinen Anfängen so kontrovers von den Zuschauern aufgenommen wurde, kann heute fast jedes Publikum auf Anhieb überwältigen – was in diesem Fall auch daran liegen mag, dass „All Long dem Day“ ein wirklich rasantes, virtuoses Stück ist. Goeckes Karriere ähnelt immer mehr der von William Forsythe: erst skandalös, dann kopiert, schließlich Kult. Der gebürtige Wuppertaler kuratiert die diesjährigen Festspiele, bei denen auf die spitzenschuhlastige Eröffnungsgala deutlich modernere Tanzgastspiele bis hin zu Pina Bausch folgen.
Die Compañía Nacional de Danza de México gastierte zum ersten Mal in Deutschland; bekannt war das Mexikanische Nationalballett hier bereits zuvor, weil mit Elisa Carrillo Cabrera eine der beliebtesten Solistinnen des Berliner Staatsballetts eine seiner beiden Kodirektoren ist, ihr Kollege heißt Cuauhtémoc Nájera. Die mexikanische Ballerina ist in ihrer Heimat eine Berühmtheit weit über den Tanzsektor hinaus, sie erweitert das Repertoire der Kompanie und will sie international etablieren. In Konkurrenz tritt ihre mittelgroße Truppe dabei etwa mit den hier bereits bekannten Lateinamerikanern der São Paulo Dance Company aus Brasilien oder einer anderen Compañía Nacional, nämlich der aus Spanien – auch diese beiden zeigen ein Repertoire aus Klassikern und modernen, zum Teil sehr modernen Choreografien.
Die zweistündige Gala in Ludwigshafen blieb erstaunlich klassisch, trotz Goecke und einem Duo aus Mauro Bigonzettis Duo „Kazimir’s Colours“, das Carrillo Cabrera und ihr Ehemann Mikhail Kaniskin voll Intensität tanzten. Die mexikanischen Eigenkreationen aber ruhten ebenfalls fest im akademischen Idiom; einzig „Casta Diva“ von Yazmín Barragán und Alan Marin kombinierte ein paar kleine, um nicht zu sagen winzige Hip-Hop-Elemente mit einer etwas moderneren, sich dehnenden Turnschuh-Ästhetik. Hier wie in Diego Landins „Afouteza“, einer vom Klassischen etwas naiv ins Moderne und leider auch wieder zurück mäandernden Kreation, fiel die unglückliche Musikcollage auf. So wie die jungen Choreografen mit Bach und Bellini, Chopin und Albinoni unbedingt die Superhits der Klassik kombinieren müssen, so wollen sie unbedingt die technische Virtuosität ihrer Kollegen herausstellen und gleichzeitig ihre eigene Modernität beweisen. Menos es más, weniger ist mehr. Rosario Murillo, renommierte mexikanische Ballettmeisterin, Pädagogin und Choreografin, blieb dankenswerterweise bei Tschaikowsky und schuf mit „… Nostalgia de lo que nunca fumos…“ ein klassisch-verträumtes Solo für Elisa Ramos.
Im „Dritten Klavierkonzerts“ von Uwe Scholz, gezeigt wurde leider nur der erste Satz des Rachmaninow-Balletts, fehlte vor allem den Herren des Corps de ballets noch ein wenig das Selbstvertrauen. Die mexikanischen Ballerinen sind starke, stolze Frauen von strenger Eleganz, sozusagen eher Bolschoi als Mariinsky. Genau so flogen und trippelten sie durch diese typische Scholz-Choreografie mit ihren stafettenartig gereihten Sprüngen und Hebungen, den sekundenschnell aufgebauten und verwobenen Gruppen. Warum nur wird diese frische, lange nicht so hierarisch wie bei Balanchine geordnete Neoklassik von unseren Kompanien so wenig gezeigt? Im „Corsaire“, dem Pas de deux mit der blauen Schlafanzughose, beeindruckten die hohen Grand Jetés der charmanten, topsicheren Ana Elisa Mena fast mehr als die Sprünge ihres Partners Ciro Mansilla, der als Gast vom Stuttgarter Ballett rasante, fein zentrierte Drehungen zeigte.
„All Long dem Day“ war 2015 für die Staatliche Ballettschule Berlin entstanden und feierte beim ersten der beiden Gastspielabende seine Premiere bei der Compañía Nacional. Ralitza Malehounova hatte das kurze, schnelle Stück brillant einstudiert, hier glänzte wie bereits im Scholz-Ballett vor allem der wuschelköpfige Moíses Carrada. Marco Goecke hat hier ungewöhnlich viele Sprünge eingebaut, hochmusikalisch und geradezu lächelnd spielt er mit den bebenden Rhythmen von Nina Simones zehnminütigem Song „Sinnerman“. Was der Choreograf an Bewegungseinfällen in dieses kurze Stück packt, fällt manchen Kollegen an einem ganzen Abend nicht ein – kein Wunder, dass die Zuschauer jubelten. Mit Stücken wie diesem und vielleicht etwas dramaturgischer Feinabstimmung für die eigenen Choreografen würde man die Kompanie sicher gern wiedersehen.
Angela Reinhardt