David Valencia in La Strada von Marco Goecke © Marie-Laure Briane
Kritiken

Was für ein Zirkus, oder: Warum wir Marco Goecke brauchen

von Angela Reinhardt

So langsam tauchen Marco Goeckes Choreografien wieder in den Spielplänen auf, dort wo sich tapfere Direktoren oder Kuratoren über die Cancel Culture hinwegsetzen.  Mit seiner am Ende bejubelten Federico-Fellini-Adaption „La Strada“ begann nun die reich bestückte Tanzreihe im Forum am Schlosspark in Ludwigsburg. Fünf Jahre lang, über die gesamte Pandemie hinweg, hat sich der Abendfüller im Spielplan des Münchner Gärtnerplatztheaters gehalten, wurde mehrfach neu besetzt und war ein Erfolg auf Tourneen, genau wie Goeckes „Nijinski“, der Gauthier Dance zu Ruhm verhalf.

Marco Goeckes Version folgt zwar erstaunlich akribisch dem Filminhalt, ist aber nur dann gut zu verstehen, wenn man den Film kennt. Ansonsten wird es manchmal ziemlich schwierig, John Neumeier hätte ein Werk solcher Art wahrscheinlich „Variationen über ‚La Strada‘“ genannt. Anfangs scheint Goecke die Geschichte gar mit Worten erzählen zu wollen, so viel wird gesprochen, und zwar immer italienisch: „Mi figlia è morta“, „Meine Tochter ist tot“, schreit Gelsominas Mutter, und „Viva la sposa“, „Es lebe die Braut“ rufen später die Gäste der Hochzeit – auf diese Weise oder auch mit Sand, den sämtliche Ensemblemitglieder als Wölkchen die Luft werfen, wird ein italienisches Lokalkolorit definiert, das man sonst nicht unbedingt erkennen würde, weil Goecke stark abstrahiert. Auch die Kostüme von Michaela Springer fallen wesentlich schicker aus als die alten, oft zerlumpten Kleider im Film, als hätte jemand den Film 50 Jahre in die Zukunft gerückt.

Fotos: © Marie-Laure Briane

Alexander Hille und Serena Landriel  in La Strada von Marco Goecke
Serena Landriel

Nicht nur die Akrobaten- oder Jonglierbewegungen, die Goecke immer wieder in seine Sprache integriert, nicht nur der rotnasige Clown, der quer durchs Stück tollt, oder das seltsam hohe Flirren von Schellen, die das gesamte Ensemble einmal in den Händen schüttelt, nicht nur die lustige und so wunderbar symbolische Szene, wenn die beiden Konkurrenten Zampanò und Matto konkurrierend große Wolken aus Zigarettenrauch in die Luft blasen, weisen auf die Zirkuswelt hin – der Choreograf zeigt die ganze Welt als einen absurden Zirkus, wo brutale und geltungsbedürftige Menschen auf Clowns und Spaßmacher treffen, wo jeder an seinem Auftritt arbeitet und wo manche, wie Gelsomina, in ihrer Unschuld untergehen. Die kleine, fast immer lächelnde Kindfrau begegnet den Menschen so scheu wie offen, sie sammelt Eindrücke, indem sie Bewegungen und damit ein bestimmtes Verhalten kopiert, sie fügt sich ein, saugt ihre unerschütterliche Fröhlichkeit aus einer herumsausenden Ratte oder aus der Begegnung mit einem kranken Kind und findet Zuflucht in ihrer Rolle als Clown, verloren auf der Landstraße, hineingeworfen in eine irre Welt. Ganz leise wird sie am Ende wahnsinnig, als Zampanò den freundlichen Seiltänzer Matto umbringt. Ihr Clownslachen mutiert zum Weinen und sie verschwindet aus unseren Augen – Jana Baldovino zeigt die ikonische Figur als eine Mischung aus Elfe und Gnom, einen verspielt-verängstigten Hauch von Mensch.

Alexander Hille und Serena Landriel
Luca Seixas, Alexander Hille

Zampanò hat fast instinktmäßig ständig nur seinen Vorteil im Auge und löst Konflikte mit körperlicher Gewalt; sein Verhältnis zu den Menschen beruht auf Zwingen oder Angeben. Goecke überhöht das Balzen des kettensprengenden Artisten um die namenlose Witwe, die er bei der Hochzeit trifft, zu einem Symbolbild seines Verhaltens. Am Schluss lässt sich Zampanò von der Wäscherin, einer Art Todesbotin ganz in Weiß, Gelsominas Schicksal erzählen und kann dem Bericht nur mit der einen Hälfte seines Körpers folgen – die andere ist taub, bewegungslos geworden. Der starke Kettensprenger ist hier halbseitig, sozusagen gefühlsseitig, gelähmt und endet zu Nino Rotas viel zu schöner Filmmusik ebenfalls in Verzweiflung. Alexander Hille, der als Zampanò nicht ganz so massiv und brutal auftritt wie damals Özkan Ayik in der Premiere, zeigt dieses leise Zusammenbrechen großartig.

Es ist faszinierend, wie Marco Goecke zu fast jeder Art von Musik choreografieren kann, sich ihr nicht einschmiegt, sondern ein Verhältnis, ein Gegenüber in ihr findet und in diesem Verhältnis manchmal eine ganz neue Bedeutungsebene etabliert. In einer Minute ist die Musik ironischer Kommentar oder gar Widerspruch zu den Bewegungen, dann vertraut er ihr wieder, lässt sich hineinfallen oder lässt sie ganz alleine erzählen. In Zusammenwirken mit der kaum erfassbaren Vielzahl der Bilder und Assoziationen, mit der uns seine Bewegungssprache überflutet, sorgt diese Vielschichtigkeit seiner Kunst für eine Verunsicherung unserer Rezeption, für ein wesentlich assoziativeres, ja schwebenderes Wahrnehmen von Handlung als in „normalen“ Erzählballetten. Was einem wie Abstraktion vorkommt, ist in Wirklichkeit eine Anreicherung durch Kommentare, blitzartige Einblicke ins Unterbewusste, durch Sprache und theatralische Effekte – durch überraschende, verunsichernde Elemente, die eine neue Zuschau-Taktik erfordern, nämlich die Bereitschaft, nicht alles durch den Weg vom Auge zum Intellekt verstehen zu wollen. Wer Goeckes Tanz zum ersten Mal sieht, ist verunsichert, daraus folgt dann die Faszination. Ja, seine Sprache lässt sich „lesen“, aber nie vollständig, es bleibt immer ein Geheimnis. Lange Zeit verabschiedete sich der letzte Tänzer in seinen Werken mit einer artigen Verbeugung vor dem Blackout. Wir brauchen diesen traurigen Artisten, lassen wir ihn nicht wie Gelsomina einfach im Dunkel verschwinden.