Dona Nobis Pacem© Kiran West
Kritiken

Das zweite Neumeier-Festival in Baden-Baden

von Angela Reinhardt

Nach der Abwesenheit des Mariinsky-Balletts, das seit über 20 Jahren mit zwei, drei Klassikern und einer Gala ein alljährlich geliebter Weihnachtsgast im Festspielhaus war, wächst sich nun dort „The World of John Neumeier“ zu einem großen, herbstlichen Ballettfestival aus. Der frischgebackene Impresario aus Hamburg nützt dabei zunehmend die Tatsache aus, dass es in Baden-Baden außer dem Festspielhaus mit seiner riesigen Bühne auch zahlreiche kleinere Spielstätten gibt, darunter das hübsche Theater am Goetheplatz, diverse Säle im Kurhaus oder das Burda-Museum. Sogar in der Kurmuschel wurde in diesem Jahr getanzt, Ballettmeister Raymond Hilbert gab einen Workshop für Laien und Passanten, das Bundesjugendballett erarbeitete ein Projekt mit Schülern und Senioren. Und fast überall ist Neumeier vor Ort dabei, der sein Festival bis ins Jahr 2030 kuratieren will; fürs nächste Jahr ist bereits das Joffrey Ballet aus Chicago zu einem amerikanischen Schwerpunkt eingeladen.

Ins Festspielhaus brachte der Ballettintendant neben „Dornröschen“ sein jüngstes Werk „Dona Nobis Pacem“ mit, ein seltsam stockendes, suchendes Stück zu Johann Sebastian Bachs h-moll-Messe. Im Zentrum steht mit dem einsamen Reisenden ein hinreichend bekannter Protagonist des Choreografen. Bachs Partitur ist ähnlich wie die frühen Ballettmusiken der russischen Klassik in einzelnen Nummern komponiert, was Neumeier zu oft in ein episodenhaftes Skizzieren einzelner Szenen überträgt, in ein ständiges Neu-Anfangen. Obwohl viele Chiffren und Personen dann doch wiederkehren, will kein großer Bogen entstehen, und ein Choreograf kurzer, in sich geschlossener Vignetten ist Neumeier eher nicht, so wie etwa Jerome Robbins oder Martin Schläpfer, die aus einzelnen Mosaikteilen ein hellsichtiges Ganzes zaubern. Statt roter Fäden ziehen sich hier seidene Fäden durch, deren Enden man nicht verknüpfen kann, und dennoch brodelt ständig eine Bedeutung unter der Oberfläche. Auch das Bühnenbild verändert sich ständig, von kriegsbeschädigtem Beton zu Gold, mit Durchsichten und Erinnerungsräumen. Vielleicht wäre es weniger peinvoll gewesen, statt dem auf Stein gebrannten Schatten eines von der Hiroshima-Bombe verbrannten Opfers lieber den Menschen tanzen zu lassen, der er vorher war? Und wer sind die Wesen in den langen Druiden-Kleidern, warum lässt Neumeier die gesamte Kompanie zum „Osanna in excelsis“ joggen? So wie sich die Hauptfigur, der fast autistisch in sich gekehrte Aleix Martínez, am Schluss unter Hinterlassung einer Lichtspur und vieler offener Fragen verabschiedet, muss man sich fast fragen, ob er der Erlöser war.

Alexander Trusch und Ida Praetorius in Dornröschen, Hamburg Ballett © Kiran West

Das Mariinsky-“Dornröschen“ war zuletzt 2019 in Baden-Baden zu Gast, aber in puncto Ausstattung schlägt Hamburg die Russen um Längen: Jürgen Roses Blumen- und Dornenhecken sind so dicht wie wunderschön, die Kostüme weitaus prachtvoller als die Tourneeausstattung der Petersburger, die Farbpalette ungleich schöner und geschmackvoller. Neumeier hat in seiner Fassung gerade genügend Petipa behalten, um noch als klassische Version durchzugehen. Seine Mischung aus einem heutigen Prinzen und der alten Märchenwelt macht durchweg Sinn, aber vielleicht gibt es doch zu viele Schichten der Entfernung vom Original. Warum sind zum Beispiel die Prolog-Feen hier ein „Sternenballett“, tragen andere Namen und bringen, obwohl sie die tradierten Schritte tanzen, keine Geschenke für die neugeborene Prinzessin? Dass die Fliederfee dabei ausgerechnet den Namen Aurora trägt, hilft nicht unbedingt beim Verständnis, die Teilung der Rolle in „Die Rose“ und die Divertissement-Tänzerin raubt der Kraft des Guten ihre märchenhafte Wirkung. Genau auf den Erweckenskuss des Prinzen fügt Neumeier im dritten Akt das lange Violinsolo ein, das in der Uraufführung gestrichen war, wodurch das „Mädchen“, wie Dornröschen hier heißt, ganz langsam und erst einmal ziemlich verunsichert erwachen kann, bevor das Happy End kommt. Alina Cojocaru, die zweimal in der Titelrolle gastierte, tanzte leicht und technisch noch immer wunderbar, mit kurzen, aber topsicheren Balancen im Rosenadagio. Im Schluss-Pas-de-deux strahlte sie ein genuines Glück aus und zeigte den feinen Unterschied zur letzten Mariinsky-Aurora in Baden-Baden: Olesia Novikova, derzeit wahrscheinlich die sublimste der Mariinsky-Solistinnen, war eine Ballerina, die Petipa in Reinheit zelebriert, Cojocaru dagegen zeigt ein strahlendes Mädchen, das sein Glück gefunden hat. Alexander Trusch, ihr Prinz, glänzte mit astreinen Sprüngen und sicheren Hebungen, als Danseur Noble aber geht er mit seiner robusten Ästhetik nie durch und passt eigentlich nicht zur zarten Cojocaru. Christopher Evans wertete die Rolle des Zeremonienmeisters Catalabutte mit Witz und Eleganz zum Hoftanzmeister auf, bei der tänzerischen Qualität der Halbsolisten und des Corps de ballet belegt Hamburg im Vergleich der großen deutschen Kompanien derzeit nicht unbedingt einen vorderen Platz.

„Selvportræt“ von Paul Lightfoot mit Maria Kochetkova und Sebastian Haynes, Kammerballetten © Tom McKenzie

Zwei ganz unterschiedliche Stücke zeigte das Bundesjugendballett im Bénazet-Saal im Kurhaus, beide begleitet von Livemusik, worauf Neumeier im gesamten Festival größten Wert legte. „Der Bürger als Edelmann“ wird zur gleichnamigen Suite von Richard Strauss getanzt, neu arrangiert für 12 Instrumentalisten der Neuen Jungen Norddeutschen Philharmonie (bei der Uraufführung vor einem Jahr war das Bundesjugendorchester beteiligt). Neumeier choreografierte ein konzertantes, freundlich-verspieltes Stück für die acht jungen Tänzer des BJB, verstärkt wurden sie durch zwei Ehemalige, die inzwischen in der Hauptkompanie tanzen. João Vitor Santana war dabei eine Art Joker, der durch die Paare wirbelte, die abstrakte Trikots und Hosen trugen. Der Choreograf forderte die jungen Tänzer immer wieder mit schwierigen Hebungen, großen Schwüngen etwa über die Schultern der Herren. Völlig anders fiel die zweite Hälfte aus, das „BJB Songbook“ trägt den Untertitel „What we call growing up“ und kreist mit nachdenklichem Folk, Pop sowie selbstgeschriebenen Texten um Themen wie Diversity, Gay Liberation und den Klimawandel – darum, „was Mensch sein heißt“, wie es eine der Tänzerinnen am Anfang formulierte. Gegenüber der eher formbewussten Klassik aus dem ersten Stück standen die Künstler hier plötzlich als authentische Persönlichkeiten mit all der Kraft ihrer Jugend auf der Bühne, auch wenn nicht alle Choreografien von weltbewegender Qualität waren (sie stammen von Ricardo Urbina, Marc Jubete, Sasha Riva, Sara Ezzell, Greg Blackmon, Raymond Hilbert, Kevin Haigen und den Tänzern). Manche der fast durchweg gesellschaftspolitischen Songs inspirierten zu aggressiver Bewegung, andere zu Trauer und langen Zwischentexten. Dass dafür noch einmal zehn neue Musiker auf die Bühne kamen, darunter Jazzsänger mit tollen Stimmen, mutete schon fast wie Luxus an – und dass unter den Songs Carole Kings „You make me feel like a natural woman“ war, riss kurz und schmerzhaft die Wunde auf, die William Forsythe mit der Tilgung seiner „Love Songs“ aus dem Repertoire hinterlassen hat.

John Neumeier und Benedikt Stampa, der Intendant des Festspielhauses, unterschreiben den Vertrag über die nächsten Jahre

Ins Baden-Badener Stadttheater, ein plüschrotes Kleinod, hatte Neumeier die junge dänische Kompanie Kammerballetten eingeladen, die nicht von einem Choreografen, sondern einem Kammermusiktrio gegründet wurde. Die Musiker sind die einzige Konstante, Tänzer und Choreografen variieren, gezeigt werden bisher ausschließlich Uraufführungen. Der Leiter Alexander McKenzie (Klavier) sowie seine Mitstreiter Niklas Walentin (Violine) und Jacop La Cour (Cello) setzen auf Live-Musik vom Feinsten, von Schubert, Fauré, Debussy, Ravel oder auch McKenzie selbst. Sie wird von den exquisiten Instrumentalisten direkt neben den Tänzern auf der Bühne gespielt, was im Rahmen einer so kleinen Bühne tatsächlich eine sehr intime, manchmal fast verschworene, geheimnisvolle Stimmung erzeugt; oft genug wurde etwa der Pianist mit ins Stück einbezogen. Einige der fünf kurzen Werke waren sehr modern, Ella Rothschilds Tanztheater-Kampfduo „Unpair“ zum Beispiel, in dem Maria Kochetkova und Sebastian Kloborg mit grausamer und zuweilen lautstarker Absurdität die Riten des Auseinanderlebens vollzogen. Der Pas de deux von Juliano Nuñes blieb eher abstrakt, während „Mary“, ein inniges Duo für zwei Frauen von Laura Arend, die zarte Sinnlichkeit einer viktorianischen Liebesgeschichte verströmte. Choreografisch und vor allem dramaturgisch originell war Kloborgs Frauenduo „In bright gloom“, das mit einer Art Finitus interruptus endete, in Chaos endete, und dann nochmal mehrmals endete. Höhepunkt des Abends war zweifellos „Selvportræt“ von Paul Lightfoot, eine mystische Dreierkonstellation mit der todbringend wandelnden Kochetkova im Reifrock zwischen zwei Männern. Zur perlend-traurigen Minimal Music von Alexander McKenzie war es plötzlich wieder da, dieses hochmusikalische, elegante Fließen aller Bewegungen, das jahrzehntelang die Ästhetik des NDT definierte und das dort unter Emily Molnar tendenziell verschwindet. Kammerballetten sind mit ihrer superben musikalischen Qualität und den gleichsam unter der Lupe vergrößerten Choreografien eine interessante Neuerung unter den Tourneekompanien – wie schön, dass John Neumeier sein Festival nutzt, auf solche Geheimtipps aufmerksam zu machen.