von Angela Reinhardt
John Crankos erster großer Erfolg beim Stuttgarter Ballett bleibt dem Repertoire nie lange fern, schließlich ist „Romeo und Julia“ mit der bekannten Shakespeare-Handlung und einer der schönsten Ballettpartituren des Repertoires auch ein perfektes Werk für Einsteiger. Seit 1962 steht die Inszenierung auf dem Spielplan, Jürgen Rose hat die Ausstattung zwischendurch ein wenig aufgehellt. Mit ihren raschen Verwandlungen und den schönen, dramaturgisch gewählten Farben der Kostüme ist die Inszenierung noch immer von einer Frische, die man den ähnlich oft gespielten Versionen von Kenneth MacMillan/Nicholas Georgiadis oder Rudolf Nurejew/Ezio Frigerio nicht unbedingt zusprechen kann. Was für ein Bild etwa, wenn Mercutio und seine Freunde als rote Störfaktoren durchs edle Schwarzgold der Capulets geistern, wie sympathisch und menschlich verorten Cranko/Rose den Trubel auf dem Marktplatz doch beim einfachen Volk, ganz ohne monumentale Bauten oder zu viel Renaissance-Brokat.
Auch bei der aktuellen, superb einstudierten Wiederaufnahme in Stuttgart, auch nach hundertfachem Sehen dieser Fassung leuchtet die Klarheit von Crankos genialem Wurf. Gegenüber der russischen Version von Leonid Lawrowsky, die beim ersten London-Gastspiel des Bolschoi-Balletts 1956 die europäische Ballettwelt beeindruckte, rückt Cranko viele Szenen ein kleines, aber entscheidendes Stück weiter ins Tänzerische. Beim Fest der Capulets zum Beispiel: wo in der russischen Inszenierung die Gesellschaft an langen Tischen sitzt und sich zuprostet, da lässt Cranko sie in ihren roten Umhängen hereinschreiten, hochmütig die Arme nach vorne gereckt. Er macht die Veroneser eleganter, zeigt sie eher als Snobs denn als Reiche, verortet dafür Romeo und seine Freunde stärker beim bunten Volk und bei den Narren.
Fotos: © Roman Novitzky / Stuttgarter Ballett


In der Neueinstudierung mit vielen Rollendebüts entfaltet Crankos Inszenierung ihre ganze dramatische Kraft, man kann nur immer wieder bewundern, wie viel Wert beim Stuttgarter Ballett auf die Nuancen gelegt wird, die Motivation der Handlungen, die Blicke und subtilen Gesten. Jede(r) auf der Bühne trägt zur Erzählung bei, gerade auch die vielen Charaktersolisten. Matteo Crockard-Villa etwa absolviert als Herzog von Verona einen Kurzauftritt, aber binnen dieser wenigen Minuten wird klar, wie wütend der alte, kluge Mann über die Dauerfeindschaft der Familien ist. Mit Joana Romaneiro Kirn ist Julias Amme endlich einmal in einem glaubhaften Alter, was allerdings die liebevolle Pointe schmälert, mit der die Romeos von früher die ehrenwerte Hella Heim auf dem Arm herumschleuderten. Elisa Ghisalberti, Daiana Ruiz und Veronika Verterich haben augenscheinlich ebenso viel Spaß in ihren Rollen als Flirtgefährtinnen der drei Freunde wie das Corps de ballet in den großen Marktszenen – insgesamt ist die Atmosphäre beim Karneval und auf dem Markt im Lauf der Jahre verspielter geworden, als wolle man die Feindschaft der Familien und sogar die gesellschaftlichen Standesunterschiede einfach wegtanzen.


Adhonay Soares da Silva, ein Virtuose vor dem Herrn, aber wahrlich kein großer Darsteller, spielt den Mercutio erstaunlich sensibel, Alessandro Giaquinto trifft als guter Freund und spontaner, glutvoller Italiener den Benvolio ideal. Beängstigend ruhig lauert Jason Reilly als maliziöser Tybalt, explosiv unter seinem kalten Äußern – wie großartig und typisch Cranko, dass ausgerechnet die Narren Tybalt auf die Bahre legen, weil sich sonst niemand traut, ihn anzufassen. Soares und Reilly machen in ihren Fechtkämpfen die ganze Tragik deutlich, wie Mercutios Tod eher ein Unglück ist, während Romeo Tybalt in seiner Wut mit voller Absicht ersticht. Die sehr lange verletzte Diana Ionescu kehrt als Rosalinde zurück, Clemens Fröhlich ist wie immer ein exzellenter Partner und als Graf Paris vielleicht sogar zu freundlich; er spät wird er sich gegenüber Julia seines Standes bewusst.

Denkt man ein paar Jahrzehnte zurück, dann hat sich auch die Stuttgarter Julia im Lauf der Zeit verändert – Elisa Badenes, die ganz langsam endlich die Starrolle anzunehmen scheint, die ihr gebührt, ist nicht mehr so scheu wie einst Marcia Haydée oder die Generationen nach ihr. Ihre Julia ist neugieriger und selbstbewusster geworden, gegenüber den Männern wie Paris und Tybalt, aber auch gegenüber ihren Eltern. Den Überschwang ihres Solos beim Ball saugt die frisch Verliebte geradezu aus Romeos Augen, genau wie Haydée kann Badenes das Schweben in einer Hebung zum puren Glück machen, die Pas de deux fließen hochmusikalisch. Martí Fernández Paixà ist, obwohl im Körperbau genauso schmal wie Richard Cragun oder Filip Barankiewicz, ein grandioser Partner, er reißt seine Julia im Balkon-Pas-de-deux geradezu von den Beinen und lässt sie exakt auf den Bögen von Prokofjews Musik fliegen, was ein sehr genaues Hineinhorchen erfordert. Der Spanier ist ein guter Schauspieler, auch wenn seine Doubles Tours noch ein wenig wackelten. Dafür sieht er hinreißend aus – fertig ist der nächste Stuttgarter Star, hoffentlich ein wenig klüger in der Karriereplanung als damals Daniel Camargo.

Die Versöhnung der beiden verfeindeten Familien über den Leichen der Liebenden, wie es sie in den russischen Fassungen gibt, hatte bereits Frederick Ashton in seiner Kopenhagener Choreografie von 1955 weggelassen. Cranko kannte sie und tat es ihm gleich.
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Mit der umjubelten Ernennung zur Ersten Solistin, nur drei Jahre nach ihrem Eintritt ins Stuttgarter Ballett, endete zwei Wochen später das Rollendebüt von Mackenzie Brown als Julia. Dass die erst 21-jährige Amerikanerin wunderbar tanzt, ist bekannt, seit sie den Prix de Lausanne und den Erik-Bruhn-Preis gewonnen hat – nach der Technik fragt man bei ihr gar nicht erst, sie phrasiert ungemein musikalisch und hat einfach einen schönen, sorgfältig ausformulierten persönlichen Stil. Aber das junge Mädchen, das sich bei William Forsythes „Blake Works“ oder in Johan Ingers „Bliss“ so übermütig in die Jazzrhythmen stürzte, das eine nette, aber nicht wirklich perfekte Olga und Bianca war, entpuppt sich hier als dramatische Ballerina von mitreißender Intensität. Man kann die wunderbare Tatjana schon erahnen.

© Roman Novitzky / Stuttgarter Ballett
Am Anfang ist die Rolle der Julia noch einfach, das Spiel mit dem neuen Kleid, das strahlende, spontane Verlieben in den Unbekannten auf dem Ball. Aber selten wurde das Aufblühen von Julias Persönlichkeit so deutlich: wie aus dem verspielten Mädchen plötzlich eine junge Frau wird, wie das zunächst herrliche Gefühl ihr Angst macht und sich zu einer tiefen, nach der Hochzeit schließlich beängstigenden Emotion entwickelt. Dass sie ihre erste Aufführung so ohne alle Angst tanzte, lag auch an ihrem sicheren Romeo – Martí Fernández Paixà ersetzte Browns sonstige, derzeit verletzte Partner Gabriel Figueredo und Henrik Erikson, und die Chemie zwischen beiden war fast schon unheimlich. Paixà sieht aus wie ein Filmstar, ist aber ein Romeo des #MeToo-Zeitalters, nie zudrängend, sondern verehrend, vorsichtig und tastend am Anfang, noch vor seiner Julia ergriffen von diesem großen Gefühl.

Beide beeindruckten fast noch mehr im dritten Akt beim Erwachen nach der Hochzeit. Bei Julias Bitten an ihre Eltern, Paris nicht heiraten zu müssen, war von kindlichem Schmollen oder Trotz nichts zu sehen, stattdessen existenzielle Verzweiflung, ebenso in der langen, pantomimischen Szene, in der sie mit sich und Pater Lorenzos Trank kämpft. Für ein Debüt erschienen so viele Nuancen, eine so kluge und doch spontane Rollengestaltung ziemlich unglaublich.
Weitere sehenswerte Debüts gab es von Adrian Oldenburger als Tybalt, der mit stechendem Blick, fast genüsslich auf Romeo wartete, der sich gar Mercutios Blut vom Degen abstreifte; bereits seine Carabosse in Marcia Haydées „Dornröschen“ war großartig, der schlanke und riesige Tänzer ist nicht nur einer der sprungstärksten in der Kompanie, sondern besitzt eine dramatische Gabe. Der junge Dorian Plasse, er hat wie Brown an der Académie Princesse Grace in Monte-Carlo studiert, war ein erfrischender, spontaner Benvolio. Als edler, aber hochmütiger Paris von bestem Veroneser Adel schritt Christopher Kunzelmann einher, den Julia quasi auf Anhieb nicht zu mögen schien – verblüffend, wie unterschiedlich die Charakterisierung auch kleiner Rollen in Stuttgart ausfällt, bei aller Sorgfalt der Einstudierung ist doch allen Darstellern ihre eigene Interpretation erlaubt.