Weronika Frodyma (Emma Bovary) und Ensemble © Serghei Gherciu
Kritiken

Vom Scheitern einer Liebessuchenden

Christian Spucks düstere „Bovary“ beim Staatsballett Berlin als erhellender Saisonstart

von Volkmar Draeger

Schon John Cranko hatte kurz vor seinem frühen Tod Interesse an einer tänzerischen Visualisierung von Gustav Flauberts 1857 erschienenem Skandalroman „Madame Bovary“. Auf die Bühne gehoben hat das „Sittenbild aus der Provinz“, so der Untertitel des Romans, nun, gut fünf Jahrzehnte später, Christian Spuck. Schlicht „Bovary“ nennt der neue Intendant seine erste Uraufführung beim Staatsballett Berlin und klassifiziert sie demonstrativ als Tanzstück, nicht als Ballett. Nicht einmal die Anrede Madame gesteht er der Titelgestalt mehr zu, wiewohl er in Interviews ausdrücklich seine Empathie für die schöne Arztgattin bekennt, die in ihrem französischen Provinznest unglücklich ist und sich in hochfahrende, Zeitschriften entliehene und daher kaum erfüllbare Träume eines luxuriösen Edellebens flüchtet. Ihr Putzzwang verschuldet sie hoffnungslos und kulminiert im schmerzhaften Freitod mit Arsen.

Fotos: © Serghei Gherciu

Veronika Frodyma als Emma Bovary, Ensemble © Serghei Gherciu

Freilich lässt sich ein subtil schildernder 350-Seiten-Roman nicht restlos in Tanz umformen. Christian Spuck verzichtet deshalb auf Nebenstränge und einen Teil der Personnage. Eingesprochene Textzitate werfen Schlaglichter auf Emma Bovarys Seelenzustand und lassen gleichsam Flauberts Sprachgewalt aufblitzen. Für den Choreografen ist das ein Glücksgriff, muss er doch nicht nahtfrei die Geschichte nacherzählen, sondern kann sich auf das konzentrieren, was ihm am Herzen liegt: die psychischen Wirrnisse der Protagonistin und ihre Beziehung zu den drei wichtigen Männern ihrer Umgebung.

Düster ist die stücklang unveränderte Szenerie, die Rufus Didwiszus dafür entworfen hat: bedrohlich hochragende, dunkle Hausfassaden mit totem Gestrüpp davor, so tot, wie sich Emma auf dem Land bald fühlen wird. Der reichlich zweistündige Abend beginnt mit einem Vorgriff auf Emmas von der Menge begafften Leichnam. Dann geht es romanchronologisch zu. Bereits die Hochzeit unter billigen Lichtergirlanden atmet Trübsinn, auch wenn sich Emma an der Seite ihres Gatten Charles hier noch zufrieden wähnt und doch schon suchend um sich blickt. Auf der Rückwand einer im Hintergrund verschließbaren Kammer laufen immer wieder Videos, anfangs von einer Dorfheirat, gegen Ende von einer Schlachtszene, so wie sich Emma von den Verhältnissen geschlachtet fühlen mag. Ihre Verhältnisse, das sind der scheue Student Léon, dann der skrupellos verführende Adlige Rodolphe, schließlich der zum Juristen gewordene Léon und ihr am Schluss peinigender Finanzier, der Warenhändler Lheureux.

Weronika Frodyma, Alexei Orlenko als Charles Bovary, Ensemble
Ensemble

Was Christian Spuck an sublim charakterisierenden Pas de deux für die ganz unterschiedlichen Personalkonstellationen auffährt, ist der beeindruckende künstlerische Kern der Produktion. Ist beim schüchternen Léon noch Emma der aktive Part, versinkt sie in Hingabe an Rodolphe und verliert sich beim Wiedersehen mit dem avancierten Léon bewusst in einem Strudel aus Eros und handfester Sinnlichkeit. Nur beim unerbittlichen Wucherer stoßen die Reize der finanziell ausweglos Ruinierten und deshalb Willfährigen auf taube Gefühle. Es ist immer wieder Charles, der sie blindäugig umfängt, tröstet, heimführt.

Genau dieser Kontrast der Emotionen macht „Bovary“ so vielschichtig. Christian Spuck lässt ungemein geschmeidig, organisch und hochmusikalisch tanzen, in nimmermüdem Fluß, zwar auf der Basis des klassischen Vokabulars, mit langen Linien etwa der Arme, bisweilen auf Spitze, doch angereichert durch Dehnungen, Gegenzug und freie Bewegungsabläufe, fort von der klassisch strengen Vertikalen des Körpers. Dass auch der Boden einbezogen wird, wenn sich Liebe entlädt, schichtet den Raum, den die Choreografie in der Fläche geschickt und nutzbringend ausspannt. Arbeiten die Pas de deux mit Hebungen, Umschwüngen, Verschlingungen, Würfen und lusttrunkenen Küssen, so setzt Spuck für die geballte, in sich gegliederte Gruppe häufig gegenläufige, vogelhaft wirkende Staccato-Zuckungen ein. Auch wenn es mehrere größere Ensemblebilder gibt, auf dem Ball in Rodolphes Schloss, bei der Landwirtschaftsausstellung oder im frivol auftrumpfenden Rouen, ist „Bovary“ doch fast ein Kammerballett – derart intensiv prägen es die solistischen Aktionen. Als besonderen Kniff personalisiert Spuck Emmas innere Visionen und Bedrängnisse durch tänzerische Gestalten, addiert sie seinen Impressionen und Assoziationen um Emmas Gefühlsleben und schafft damit eindringlich bewegte Metaphern.

Weronika Frodyma als Emma Bovary und David Soares als Rodolphe
Weronika Frodyma als Emma Bovary und Alexandre Cagnat als Léon

Rund 65 Aktive zählt man bei der Verbeugung auf der großen Bühne der Deutschen Oper Berlin nach dem Defilee von Emmas Lebensstationen. Und dennoch ist es hauptsächlich der Abend der Weronika Frodyma. Kaum je kommt sie als Emma von der Szene, ist mit den technisch kniffligen Pas de deux höchst gefordert und hat dabei die emotionale Spannweite von der verunsicherten Arztgemahlin über die Liebeshungrige bis zur fahrig Todeswelken zu gestalten. Das bewältigt sie überragend souverän und katapultiert sie künstlerisch mit an die Spitze der Kompanie. Alexandre Cagnat als erwachender Léon, David Soares als übersättigter Aristokrat Rodolphe und nicht zuletzt der gütig wegschauende Charles des Alexei Orlenco sind ihr choreografisch stark gezeichnete und durch ihr Spiel zeichnende Partner.

Bedienen Emma Ryotts Kostüme farblich überwiegend dezent die verschiedenen gesellschaftlichen Sphären, so ist Christian Spuck mit der Musikauswahl ein Coup gelungen. Vornehmlich weniger bekannte Klavierkonzerte von Camille Saint-Saëns, stilistisch breitgefächerte Kompositionen von György Ligeti, Arvo Pärt, Charles Ives, Toru Takemitsu und Thierry Pécou tragen die choreografische Konstruktion, als seien sie eigens dafür entworfen; mit einem eingespielten melancholischen Chanson um Unglücklichsein umreißt die Französin Camille zusätzlich Emmas Befindlichkeit. Kein Vorhang, nur eine pechschwarze Kurtine: sie fährt am Schluss wie eine Guillotine über Emmas Todeskampf herunter. Der Jubel des Premierenpublikums erreichte da Orkanstärke, das unter Jonathan Stockhammers Dirigat formvoll variabel musizierende Orchester der Deutschen Oper einbeschlossen.