Paul Irmatov und Ayaka Fujii in Romeo und Jula, Foto von Sergei Gherciu
Kritiken

Warum wir das Ballett brauchen: John Crankos „Romeo und Julia“ in Prag

„Warum wir das Theater brauchen“, so der Titel einer 1995 von Peter Iden herausgegebenen Sammlung von Aufsätzen inmitten der deutschen Finanzkrise, mit Plädoyers für die nicht aufzugebende Notwendigkeit dieser Kunst.

Nach der gefeierten Premiere des Balletts „Romeo und Julia“ in der Choreografie von John Cranko, in der Ausstattung von Jürgen Rose, so nahe als möglich an der legendären Stuttgarter Uraufführung vor nunmehr 60 Jahren, jetzt mit der Choreologie einer Spezialistin wie Jane Bourne, mit dem Prager Nationalballett in der Staatsoper, kann es gar keine Frage sein, warum wir jetzt gerade diese Kunst, das Ballett, auch in der ganz lebendigen Wahrnehmung eines solchen Meilensteins in der Geschichte der erzählenden Tanzkunst, unbedingt brauchen. Dass das Publikum in Prag sein Ballett braucht, das war unübersehbar, lange bevor sich der Vorhang öffnete. Da hatten zunächst die Einlasskräfte alle Hände voll zu tun, um die hohe Anzahl kleiner und großer, schlichter oder üppiger Blumengebinde entgegen zu nehmen, um sie dann beim  stürmischen, dennoch aber immer vor allem herzlichen, Schlussapplaus, jeweils den Tänzerinnen und Tänzern zu übergeben.

Was war geschehen?
Mit dem Ballett „Romeo und Julia“ von John Cranko, hat sich beim Ballett des Prager Nationaltheaters unter der künstlerischen Leitung von Filip Barankiewicz, nunmehr in der fünften seiner konzeptionell begründbaren Saison, ein Ring geschlossen. Mit „Schwanensee“, „Onegin“ und nun mit „Romeo und Julia“, stellt sich diese Kompanie höchsten Ansprüchen in erzählenden Kunst des Balletts. Gerade angesichts dieser aktuellen Premiere geht somit, wie mitunter befürchtet werden könnte, der Blick ganz und gar nicht zurück. An Aktualität mangelt es ja schon der Tragödie Shakespeares, 425 Jahre nach ihrer Uraufführung, ganz und gar nicht. Junge Menschen als Opfer nicht mehr nachvollziehbarer Feindschaften zwischen ihren Familien, werden in den Tod getrieben.

Paul Irmatov und Kristýna Němečková, Foto Sergei Gherciu
Paul Tudor Moldoveanu, Giacomo De Leidi, Matěj Šust, Paul Irmatov, Photo Pavel Hejný

Shakespeares Tragödie als Gleichnis, „für das notwendige Scheitern des absoluten Gefühls in einer Welt, die durch das Zusammenwirken von gesellschaftlichen Bindungen, von Familienhass, von bösen Folgen guten Willens, von Charakter, Verhängnis und auch Zufall derart verrätselt ist, dass niemand sie durchschauen kann“, so Georg Hensel in seinem Schauspielführer „Spielplan“. Hensel betont auch wie eng die Nachbarschaft von Liebe und Tod ist, „unmittelbar spürbar schon bei der ersten Begegnung Romeos und Julias und immer gegenwärtig, noch in ihrem Glück.“

Anna Novotná, Kristýna Němečková, Foto Pavel Hejný

Somit wäre die Frage nach der Aktualität beantwortet. Zudem beantwortet sie sich auch angesichts der choreografischen Inszenierung John Crankos, der diese tragische Grundierung niemals ausblendet, selbst in den ausgelassenen Szenen des Karnevals, auf dem Markt, bei überbordender Stimmung. Cranko bringt es tänzerisch zum Ausdruck, wie Shakespeare das Leben abbildet, die Absurditäten des Lebens nicht unterdrückt, das Lachen ins Weinen übergehen lässt und selbst im Sterben noch den Witz des Widerstandes zulässt.
So tritt in seiner Choreografie letztlich aus ihrem Komödienton um so gewaltiger der Ernst hervor.
Und der Tanz, jene wortlose Intensität der Körpersprache, bezieht immer wieder seine so kraftvollen wie sensiblen Momente aus der Begegnung von Blicken. Etwa wenn sich die Blicke Romeos und Julias erstmals treffen. Die Anziehung ist unvermeidbar, es finden sich Wege, so in der Maskierung Romeos. In der Szene am Balkon, wenn sie eben erstmals auch über eine gemauerte Entfernung zueinander kommen und die Natur den Abschied gebietet. Sie empfangen die heimliche Trauung des so gutmütigen, wie letztlich in tragischer Weise naiven Paters Lorenzo, hier auf der Bühne von Jürgen Rose nicht im Gewölbe einer Kapelle. Nein vor der gemalten, perspektivischen Vision unbezwingbarer Natur. Aber vor diesem so verführerischen Trugbild wird Alexey Afanasiev als Pater auch Ayaka Fujii als Julia jenes Schlafmittel überreichen, das sich dann in dann zum Anlass des tödlichen, vergifteten Missverständnisses wandelt.

Aber noch immer bleibt diese täuschende Vision mit der weiten Perspektive der gemalten Landschaft von Jürgen Rosé so genial erhalten, wenn sie durch die geschlossenen Vorhänge den Gang der Natur und somit das Ende der Nacht, in jener Liebesnacht, von der die Zuschauenden wissen, dass sie bereits von der Todesahnung durchzogen ist, verborgen werden soll, was nicht möglich ist.  An anderer Stelle wiederum, auf öffentlichen Plätzen, im Palast der Capulets gibt es immer noch weitere Räume, die in der Andeutung bleiben, hinter den Arkadengängen, aber auch oberhalb der Szene auf Plätzen und Märkten, eine Brücke, ein Übergang?

Paul Irmatov und Ayaka Fujii, Foto Sergei Gherciu

Zum Glück für das Prager Publikum war es Filip Barankiewicz noch vor dem Brexit gelungen Jürgen Roses meisterhafte Ausstattung, die eben noch ganz nahe am Stuttgarter Original ist, von Glasgow nach Prag zu holen und den Meister selbst zu gewinnen die Einrichtungen auf der Bühne der Prager Staatsoper zu beflügeln.
Ja, auch angesichts dieser Prager Premiere lässt es sich gut nachempfinden, dass beim ersten Gastspiel des Stuttgarter Balletts, 1969 in New York, mit Crankos „Onegin“ und eben mit „Romeo und Julia“ der Daily Express von einer „Offenbarung“ schwärmte und in der New York Times vom „Stuttgarter Ballettwunder“ die Rede war. Und siehe: Wunder gibt es immer wieder. Es grenzt nämlich schon an ein Wunder was in Prag, trotz großer, coronabedingter, Probleme, damit bedingten Ausfällen erkrankter Tänzerinnen und Tänzer, in den Reihen der Solisten, im Corps de ballet, letztlich gelungen ist. Ausschließlich dank der Rollendebüts in den ja wahrhaft so fordernden wie anspruchsvollen Hauptpartien, ist es gelungen diese gefeierte Premiere zu realisieren.

Tanzen allein, sei es auch technisch noch grandios, reicht nämlich nicht. Auf Individualität kommt es an, auf die persönliche Glaubwürdigkeit, auf die Dialoge und vor allem immer wieder die Vermittlung der Klänge innerer Stimmen durch die Musikalität der Bewegung. Und da bieten die Prager Tänzerinnen und Tänzer immer wieder wahrhaft gelungene Szenen. Da sind die der Gruppen, der Feste, der Späße auf den Straßen. Auch gegen Ende, wenn die Gruppe der Tänzerinnen als Brautmädchen in geradezu melancholisch grundierter Stimmung jene Todes-Lilien zu Julias bevorstehender Vermählung mit Paris in den Armen halten, aus denen die Mutter der Grabstrauß bindet. Jacob Groot ist hier der Paris, eine tragikomische Gestalt, ein Spielball der Zweckmäßigkeit fremder Mächte. In diesem Falle Julias Eltern und doch auch in so bedauernswerter Verwirrung der Gefühle. Groot ist zu Glück fernab aller mitunter unglaubwürdigen Gestaltung In der Manier eines Trottels.

Paul Irmatov und Ayaka Fujii , Foto Sergei Gherciu

Paul Irmatov als Romeo vollzieht den tragischen Wandel von der jungenhaften Unbeschwertheit des Scherzboldes auf Sprungfedern im Herzenstrio mit Matěj Šust als Mercutio und  Giacomo De Leidi als Benvolio, zum erwachenden jungen Mann mit erster Erfahrung bislang fremder Welten. Dies aber leider auch im tragischen Widerspruch als flüchtender Mörder. Weder das eine noch das andere war geplant, die Zufälle sind es, die aber alles andere als zufällig über diese jungen Menschen hereinbrechen. Eine saturierte Gesellschaft ihrer Eltern windet diese Fäden des Todes um sie. Und das wird deutlich am völlig sinnlosen Kampf zwischen Tybalt aus dem Hause der Capulets und Mercutio dem Freund Romeos, aus dem Hause der Montagues. Und selbst der Tänzer Paul Tudor Moldoveanu vermag es in der Rolle des Tybalt Anklänge tragischer Verblendung zu vermitteln, so dass Romeo mit ihm zwar keinen Unschuldigen aber doch auch einen bemitleidenswerten, verführten, jungen Menschen tötet.

Natürlich hat Romeos Freund Mercutio, mit existenzieller Hingabe getanzt von Matěj Šust, seine großen Momente im Augenblick des Sterbens. Von Tybalt so sinnlos wie tragisch tödlich verletzt, vermag er in seinem skurrilen „Totentanz“ im tragischen Scherz des Aufbegehrens und des Antanzen gegen den Tod, immer grundiert in der Geste möglicher Versöhnung, Shakespeare so berührend nahe zu sein: Wenn aus dem tänzerischen Ton der Komödie der gewaltige Ernst dieser Tragik in berührender Weise hervorbricht.
Wie eine Lichtgestalt, unberührt zunächst, verwirrt und dann erwachend im Gefühl der Zuneigung zu Romeo, und doch am Ende in allem auch tödlich verwoben, gestaltet Ayaka Fujii ihre Julia.

Romeo and Juliet, The Czech National Ballet – Foto Pavel Hejný

In dieser Tragödie der unschuldigen Schuldigen hat John Cranko aber sowohl in der legendären Balkonszene als auch in der Morgendämmerung mit Romeos Abschied beim Tagesanbruch nach der ersten und letzten Liebesnacht, die schönsten Momente des Tanzes in der Vision berührender Zweisamkeit geschaffen. An Glaubwürdigkeit der Neigung fehlt es Ayaka Fujii und Paul Irmatov als Romeo und Julia nicht.
Von der flutenden Lyrik der Musik Sergej Prokofjews, die immer wieder, ganz gemäß einer Ballettpartitur, wie ein Gesang ohne Worte anmutet, in der Verdichtung neben Verströmen steht und funkelnde Geschliffenheit neben sanftem Verströmen, ist leider an diesem Abend unter der musikalischen Leitung von Václav Zahradník zu wenig zu vernehmen. Immer wieder wird Dramatik mit Lautstärke verwechselt. Das Zusammenspiel der Instrumentengruppen verfolgt nicht immer gleiche Richtungen. Wirklich schade, hier mangelt es daran, sich als Dirigent mit dem Orchester immer wieder auf den tänzerischen Atem einzulassen. Ein Wermutstropfen. Schade.

Am Ende aber lässt sich zum Glück der Gesamteindruck dieser Prager Ballettpremiere nur bedingt beeinflussen, die Musikalität des Tanzes setzt sich durch.

Boris Gruhl