Über den neuen Tanzabend EN VOGUE am Nationaltheater Mannheim
Unbeschreiblich – anders lässt sich die neue Arbeit des niederländischen Künstlerduos Imre van Opstal und Marne van Opstal für das Tanzensemble am Nationaltheater Mannheim nicht benennen. Mit ihrem Stück „The Little Man“ lieferten die beiden nicht nur, was im internationalen Tanz „En Vogue“ ist, so der Titel des neuen Tanzabend. Die Geschwister zeigten auch, dass man ihnen zutrauen kann, den zeitgenössischen Bühnentanz tatsächlich in die Zukunft zu führen. Den Grund dafür findet man in der wahrhaft grenzüberschreitenden und die Kunstdisziplinen vereinenden Qualität ihrer Arbeit. Anders gesagt: Die van Opstals kreieren Kunst in der Mitte des Fadenkreuzes von Tanz, Bildender Kunst und Skulptur. Den elektrisierenden Sog, dass man hier etwas Neues und Eigentümliches erlebt, spürte man schon nach Beginn. Ein Gerüst aus Holzbalken, bestehend aus drei Teilen, wie ein Triptychon, beherrscht die Bühnenmitte. Über ihm werfen Neonröhren gleissendes Licht nach unten. Zwei Männer und eine Frau – Leonardo Cheng, Albert Galindo und Paloma Galiana Moscardó – in hautfarbenen kurzen lockeren Hosen, sie mit Oberteil, befinden sich in einem unendlich erscheinenden Dauerlauf, bis sie nach oben springen und sich jeweils an einem der Balken festhalten. Man erblickt in ihnen zwar Menschen, nimmt jedoch tatsächlich hängendes, im Licht wegen des Schweißes schon nass schimmerndes Fleisch wahr. Dann gleitet Cheng zu Boden und äußert sich solistisch. Die Hände eingebogen, die Füße immer wieder eigentümlich verdreht, hockend, bewegt er sich, den Körper entblößt und verletzbar ausgestellt, als ob er sich durch seine eigenen Schichten aus Muskelfasern und Sehnen durchwringt, weil er am Boden festgeklebt ist oder im übertragenen Sinn gefesselt an einen unentrinnbaren Ort.
Denn diese Assoziationen kommen natürlich: Lager, Schlachthof oder gar Käfig. Die vor sich hin knauzende Soundlandschaft spült noch zusätzlich latenten Druck in die Situation. Später gesellt sich zu Galindo Cheng dazu, dann Galiana Moscardó. Entweder hocken die Männer in den Rechtecken, synchron, wie Klone, während sie den Solopart unten übernimmt oder alle drei bewegen sich in einem kunstvollen Trio. Sucht man Worte, um die Bewegungsqualität zu beschreiben, landet man bei „loslösen“, „erschlaffen“, „gleiten“, „aufgeben“, „verharren“ oder „nachgeben“. Insgesamt ist eine selten zu erlebende Bewegungsvirtuosität zu erleben. Jeder Moment scheint mit einer einzigartigen neuen Bewegung aufzuwarten. Dabei zeigen bis zuletzt weder die Männer noch die beiden anderen Gefühle oder Emotionen. Selbst intime Posen verwandeln sich in skulpturale Ereignisse. Eine Umarmung von zweien wird so vom dritten am Boden gerollt wie Teig. Man selbst fängt nicht nur an, umso stärker zu empfinden, sondern schwebt auch in Gedanken in andere Zeiten. Als Galiana Moscardó irgendwann im ruhigeren Mittelteil mit eingedrehten Beinen und ausgestreckten Armen die Körpergeste des Gekreuzigten annimmt und die Männer sie hoch an die Balken heben, weiß man, dass diese beeindruckende Arbeit im Begriff der „Erlösung“ ihren Sinn und ihre Relevanz gefunden hat.
Im Vergleich dazu weniger progressiv und auf der Stelle tretend, aber genauso zeitgemäß und intensiv, gestaltete sich im Anschluss „Aeon“, die Neukreation von Christine Gouzelis und Paul Blackman. „Aeon“ erwies sich dabei einerseits als bestechender versinnbildlichter Kommentar zum Zustand der Welt, auch als eine getanzte Reise der Menschheit von der Antike bis zum immer noch wissenschaftsgläubigen Zeitalter der Gegenwart. Andererseits wirkte es als ein Indiz, dass die vor fünfzig Jahren begonnene Ära des Tanztheaters und mancher, damit verbundener Stilmittel vielleicht langsam zu Ende geht. Gouzelis und Blackman tauchen ihre neue Choreografie in eine weite, schier endlose Nebellandschaft, in deren Mitte ein monumentaler schwarzer Stein hängt. Menschen erscheinen, klettern auf ihn oder sitzen wie Meerjungfrauen oder Sirenen auf ihm. Andere arbeiten sich an ihm ab wie Sysiphos. Irgendwann erscheint der Stein wie ein heiliger Gral, um den die Gruppe, getragen und getrieben von peitschenden Rhythmen, rennt. Als alle auf herein getragenen Säulen postieren, wird klar, dass hier das alte Thema von der Hybris des Menschen zitiert wird. Als ob Lars von Triers Film „Melancholia“ Pate gestanden hätte, rast der in Bewegung gekommene Stein irgendwann auf die Tänzer zu, die sich im letzten Moment virtuos wegducken. Wie im Zeitraffer verdeckt er hell erleuchtete Szenen des Ankommens und des Abschieds voneinander. Zum Schluss nehmen sich die Tänzer Stühle und nehmen den Fels ins Visier wie bei einem wissenschaftlichen Vortrag ins Visier. Chapeau!
Alexandra Karabelas