von Angela REINHARDT
„Schlecht choreografiert und unfassbar banal“, „auf dem untersten Niveau“ sei Demis Volpis Stück „The Thing with Feathers”, so erzählte Alexandr Trusch wiederholt der Presse und legt mit „Schülertheater“ später noch eins drauf. Das alles sagt er wohlgemerkt über seinen derzeitigen Chef, den Hamburger Ballettintendanten, der nach Truschs Ansicht „als Künstler nichts bieten kann.“ Das Timing des Brandbriefs, mit dem sich 36 Tänzer beim Hamburger Kultursenator über ihren Vorgesetzten beschweren, ist perfekt, grätscht es doch genau in die kreative Probenphase von „Demian“ hinein, der ersten Kreation Volpis für seine neue Kompanie, die am 6. Juli Premiere feiern soll. Der kann sich nun mit dem Skandal herumschlagen anstatt sich auf seine Kunst zu konzentrieren – wobei es fast unverzeihlich für einen Ballettdirektor ist, dass Volpi das Brodeln im Ensemble nicht gespürt hat und nun zur Unzeit davon überrascht wird. Scheinbar traf hier ein auf moderne Kommunikation eingestellter Ballettchef, der erwartet, dass man mit Problemen offen auf ihn zukommt, auf ein verwöhntes Ensemble, dem zu oft gesagt wurde, wie brillant es doch ist.
Im selben anmaßenden Ton kritisiert Trusch seinen Direktor dafür, dass er „nie auf hohem Niveau“ getanzt habe. Wer die Berufung zum Choreografieren in sich spürt, der fängt (genau wie John Neumeier) so früh wie möglich damit an und wartet nicht, bis seine Bühnenkarriere mit 40 Jahren endet und er umschulen muss. Aus den Worten des Hamburger Tänzers klingt oft ein kräftiger Dünkel, wenn er etwa befindet, dass es im Interesse des Direktors sein sollte, „so eine Compagnie zu verstehen“ und dass man sich „auf unserem Niveau“ solche Stücke nicht erlauben könne. „Er hat kein Interesse, zu verstehen, was diese Werke für eine Geschichte haben. Man muss zuhören, zuschauen, lernen und verstehen, was sie ausmacht“, so Trusch im „Hamburger Abendblatt“. Das heißt, er will keine Veränderung, sondern einen zweiten John Neumeier haben. Mehrteilige Abende hält Trusch für Geldmacherei, diese Stücke seien „zum Weiterverkauf choreografiert“ – ein Vorwurf, der nebenbei dann auch Legenden wie Hans van Manen, Jiří Kylián oder William Forsythe trifft. Raffiniert impliziert der Tänzer-Vorwurf, Volpi sei nicht oft genug im Ballettsaal, eine gewisse Faulheit, Volpi kontert mit aufwendiger Verwaltungsarbeit. Das Totschlagsargument schließlich des „toxischen Arbeitsklimas“ klingt nach Harvey Weinstein, Mobbing, Belästigung und wird, das dürfte die Absicht gewesen sein, die offene Haltung des Publikums gegenüber Volpi entschieden eintrüben, der aufgrund dieser Aktion schon jetzt mit deutlich schlechteren Publikumsreaktionen und Kritiken für „Demian“ rechnen darf.
Verblüffend ist bei der ganzen Aktion die Selbstverständlichkeit, mit der Trusch nicht nur in Hamburg als „einer der weltbesten Tänzer“ angesagt wird. Alexandr Trusch ist kein Star – das mag er vielleicht für seine Hamburger Fans sein, aber er gehört keineswegs zur internationalen Elite, wird eher selten anderswo eingeladen. Trusch ist relativ klein, hat keine hohen Beine, keine hohen Sprünge, keine besondere Lyrik wie ein Danseur Noble. Er gehört auch unter den Hamburger Tänzern nicht unbedingt zu denen mit der größten dramatischen Ausstrahlung und ist keineswegs die erste Wahl, wenn es um zentrale Rollen wie Nijinsky geht. Partnert er die sensible, ätherische Alina Cojocaru, einen echten Weltstar, dann wird der künstlerische Niveau-Unterschied deutlich offenbar. Da erscheint es ziemlich verwegen, mit bald 36 Jahren zu kündigen und irgendwo offene Arme für ein weiteres Engagement zu erwarten – die Konkurrenz um Tänzerstellen wird immer heftiger, die Jugend ist exzellent ausgebildet, wird mit Neugier angeliefert statt mit Dünkel. Welcher Direktor würde einen Tänzer nehmen, der mit solchen Worten über seinen aktuellen Chef herzieht?
Was also erhofft sich Trusch von seiner Aktion? Im Brief an Carsten Brosda fordern die Tänzer eine „alternative Strategie“ – will heißen: einen neuen Chef. Im Interview mit dem Hamburger Abendblatt legt Trusch die Spur: „Ich versuche, meinen Ensemble-Kollegen Edvin Revazov bei dem Hamburger Kammerballett zu unterstützen“, und: „Es gibt genügend Choreografen im Haus, die absolut kein Problem haben, etwas zustande zu bringen.“ Ja wen denn, fragt man sich erstaunt – Neumeier galt, ein schmerzhafter Unterschied zu John Cranko, nun wirklich nicht als jemand, der Choreografen aus dem eigenen Ensemble gefördert hat. Mehr als eine einzige Kreation hat er bei keinem einzigen von ihnen jemals in Auftrag gegeben. Ein Handlungsballett können weder Revazov (der als zweiter nach Trusch auf dem Brief unterschrieben hat) noch Aleix Martínez vorweisen. Volpis „Krabat“ brach 2013 sämtliche Zuschauerrekorde in Stuttgart, aber ein Hamburger Startänzer kann natürlich bereits nach einem Kurzballett die Qualität eines Choreografen beurteilen.
Manchmal hat man den Eindruck, als wäre beim Hamburg Ballett kein Chefchoreograf gegangen, sondern ein Sektenführer. Gehört dieser Hochmut zu den schlimmen Folgen der jahrelangen Monokultur, wo zuletzt außer alten Klassikern keine andere choreografische Handschrift mehr gezeigt wurde? Dass das Tänzerniveau in Hamburg während des letzten Jahrzehnts nicht mehr so hoch war wie zu den besten Neumeier-Zeiten, ist kein Geheimnis – nur wenige der jetzigen Solisten haben Persönlichkeiten wie einst Heather Jurgensen, Hélène Bouchet, Ivan Urban oder Thiago Bordin, ganz zu schweigen von ihrer Vorgängergeneration. Die Hamburger Tänzer haben ihr Leben lang Rollen auf den Leib choreografiert bekommen, die damit auch ihrer technischen Qualität entsprachen und sie natürlich gut aussehen ließen. Jetzt werden sie damit konfrontiert, dass ihre stilistische Flexibilität vielleicht für andere Choreografen nicht taugt, das tut weh.
Demis Volpi arbeitet nicht auf dem Niveau der großen Meisterchoreografen, das dürfte inzwischen klar sein – ebenso klar ist, dass man keinen dieser Meisterchoreografen (so es sie überhaupt noch gibt) nach Hamburg locken konnte – trotz des „Starensembles“, das sollte selbigem zu denken geben. Demis Volpi aber hat den unschätzbaren Vorteil, dass er auch kuratieren kann und fuhr gleich in seiner ersten Spielzeit viel von dem auf, was Neumeier den Hamburgern jahrelang vorenthalten hatte. Auch die nächste Spielzeit liest sich mit Namen wie Ratmansky oder Marcos Morau (neben fünf! Neumeier-Werken) höchst interessant, aber natürlich kann man den Vorwurf erheben, Hamburg reihe sich ab nun ins gleiche Ringelreihen ein, das alle deutschen Kompanien zeigen. Je nun, was wäre die Alternative? Neumeier pur bis in alle Ewigkeit? Der gibt übrigens seine Meisterwerke gerade auch an mehrere andere Kompanien weiter, weil jedes Publikum eine Vielfalt an Stilen verdient hat.
Den Respekt, mit dem sich Demis Volpi und sein Vorgänger bisher behandeln, kann man nur bewundern, genauso wie Neumeiers kluges Schweigen zu dem Thema. Respektvoll von Volpi war es auch, bei seinem Antritt keinem Tänzer zu kündigen, aber genau das schlägt ihm jetzt entgegen. Hätte er es mal gemacht wie Neumeier damals 1973, der 16 Tänzer rauswarf und heftig dafür angefeindet wurde, oder wie Alessandra Ferri soeben in Wien – sie ließ selbst die Ersten Solisten bei Auditions vortanzen und verlängerte die Verträge von über 20 Ensemblemitglieder nicht. Wer so radikal agiert, bekommt sicher keinen Ärger in der ersten Spielzeit.
Einen würdevollen Ton schlägt Volpi auch in seinen Entgegnungen auf Truschs fiese Vorwürfe an: „Jede Tänzerin, jeder Tänzer darf sich eine eigene Meinung bilden“, sagte er in der „Welt“. Die Hälfte seiner Kompanie scheint offensichtlich überzeugt, eine Änderung herbeizwingen zu können. Man kann nur hoffen, dass alle die Schärfe des Briefes wirklich verstanden haben, den sie da unterschrieben haben; für einen eitlen Ballettintendanten wäre sie wohl Grund genug, diese Tänzer nicht mehr einzusetzen. Auf welcher Seite in Hamburg die Eitelkeit liegt, dürfte deutlich geworden sein.
Und nun? Sollte der Kultursenator Carsten Brosda den Neuen schon in der ersten Spielzeit hinauswerfen, wer würde noch nach Hamburg gehen, wo die Tänzer mit massiven Worten hetzen und derart herablassend auf neue choreografische Handschriften reagieren? Vielleicht könnte man die bereits entsorgten Direktoren aus Wuppertal auftragen…