Jörg Mannes forscht in Magdeburg „Borgia“ nach •
von Volkmar DRAEGER
Alexander VI. aus dem Hause Borgia, um 1430 bis 1503: der Skandalpapst schlechthin, Vielfachmörder, Machtpolitiker, schamloser Protegé seiner Söhne, bedenkenloser Nutznießer seiner Tochter Lucrezia. Zuhauf sezieren Bücher widersprechend sein Wirken, in neuer Zeit ranken sich TV-Serien um seine Machenschaften. Jetzt hat ihn auch der Tanz entdeckt. Schlicht „Borgia“ nennt Jörg Mannes in Magdeburg sein Ballett, verhandelt in zwei Akten die Vita eines eher weltlichen als bibeltreuen Kirchenmanns der Renaissance – und entfaltet ein emotionsgeballtes, kraftstrotzendes Sittenbild. Filmkompositionen von Dmitri Schostakowitsch und Musik von Henryk Górecki, von streicherzart bis wuchtig, schmiegen sich nahtlos dem ersten Teil an; Philipp Glass’ Symphony No. 8 treibt den zweiten Akt in tobenden Furor und lässt ihn todessanft enden.
Mit dem Bild vom Konklave beginnt der zweistündige Abend: Auf einer verschiebbaren Tribüne, wie Thomas Rupert sie in ein imposant sich verjüngendes Kellergewölbe stellt, gestikulieren sich auf drei Etagen die Kardinäle durch die Papstwahl. Als weißer Rauch aufsteigt, hat sich per opulenter Bestechung der spanisch abkömmliche Rodrigo Borgia behauptet. So wie er in Weiß, tragen die klerikalen Würdenträger von Rosa Ana Chaná attraktiv entworfene weite Hosenröcke in Kardinalrot, die allen Bewegungen zusätzlichen Schwung verleihen. Und gleich schart der neue Kirchenfürst seine familiäre Entourage um sich, Söhne, Tochter und deren Mutter. Der gemeinsame Brustschlag bestätigt ihr Bündnis. Spielt noch die Mutter eine wichtige Rolle, verfällt der Papst bald der jungen Giulia. Ihr berechnender Bruder Alessandro führt sie ihm zu, den Gatten hebt, wischt der wild begehrende Borgia zu aufflammender Musik aus dem Trio einfach fort. Die Zeichen sind gesetzt.
Fotos: © Bettina Stöß
Noch können die Kardinäle lachen, doch bald entlarvt Borgia sein tödliches Spiel. Erst segnet er Lucrezias Heirat, dann lässt er den Ehemann meucheln. Der riesige Papstthron aus Lattenrosten, an den sich der Clan schmiegt, klappt zur Festtafel auf. Die Geladenen indes trinken Gift, ihre Leichen türmen sich unter dem Tisch, nur eine sich Bekreuzigende entkommt. Jörg Mannes gestaltet das als Groteske ohne Todesqual. Der Mordmaschinerie fällt auch Borgias Lieblingssohn Juan ominös um Opfer; dessen Bruder Cesare misstraut der Papst zwar, muss jedoch mit ihm paktieren.
Den zweiten Akt dominiert anfangs der Mönch Savonarola, der mit seinen Radikalideen zunächst Massen an sich zu binden weiß. Diese Szenen mit ihrem fast sinfonischen Zuschnitt, ihrem überbordenden Sprungfeuerwerk um eine umhergewirbelte Tribüne und der fast berstenden Spannung zu Glass’ treibenden Klängen gehören zu den dramatischsten des Abends. Der Tango, den Mönch und Papst auf der obersten Tribünenstufe zitieren, wird für Savonarola zum Todestanz. Dagegen setzt Mannes Borgias leises, untragisches Ende. Noch einmal entlädt sich seine Liebe zu Giulia in einem verzehrenden Duett, in dem der rollbare Tisch als Lustpfuhl mitagiert. Schon beobachtet ihr Bruder Alessandro aus sicherer Ferne die Aufwallung der Gefühle. Dem müden Papst erscheinen die Toten seiner Amtszeit, ein letztes aufbegehrendes Solo, dann stürzt er an der Rampe unsentimental. Sein Nachfolger, jener Alessandro, schreitet über ihn hinweg, Giulia hat für ihn ganze Arbeit geleistet.
Jörg Mannes rahmt die einzelnen Kapitel durch lateinisch eingesprochene Texte des Chronisten Burckard von Straßburg, der den frevelnden Papst begleitet hat. Ansonsten vertraut der Choreograf gänzlich auf die Durchschlagskraft des Tanzes. Dabei gelingen ihm außer den virtuos in sich gegliederten Ensembles mitreißend geformte Duette und Trios von starker Aussage und ebenso bühnenfüllendem Sog wie die Gruppen. Steigern sich die Kardinalsszenen bisweilen gefühlt zu einer roten Feuersbrunst, so zeugen auch die Pas de deux von der meisterlicher Beherrschung eines zeitgenössisch-klassischen Bewegungsmaterials, das erfinderisch ist, zugleich die Handlung fortschreibt und nirgendwo ins Gefühlige abgleitet. Jörg Mannes: ein choreografischer Fabulierer mit emotionalem Tiefgang, ein Inszenator mit souveränem Gespür für Theater. Marco Marangio als bei allem Stolz filigraner Borgia, Joshua Hunt als sprunggewaltiger Cesare, der Savonarola der beinah fanatisch agilen Fiammetta Gotta, die fügsame, dann leidenschaftliche Giulia der Chiara Amato, die benutzte Lucrezia der Louise Curien führen ein exzellent auftrumpfendes Ensemble an, dem nicht zuletzt Svetoslav Borisov und seine Magdeburgische Philharmonie gehörig zufeuern.