In Görlitz erobert „Peter Pan“ die Tanzbühne •
von Volkmar DRAEGER
Musik von Leonard Bernstein zu einem Musical um Peter Pan? Zu einem kompletten Musical zwar nicht, doch als Ergänzung und wohl auch akustische Belebung für eine Schauspielproduktion 1950 am Broadway. Und weil Bernstein selbst nicht die Proben betreuen konnte, werkelten die damaligen Inszenatoren munter in der Vorlage herum. Erst nach 2000 wurde Bernsteins originale Partitur aufgefunden und für eine werkgetreue Wiedergabe aufbereitet, auch mit den Songs und ihren Texten aus des Komponisten Hand. Dan Pelleg und Marko E. Weigert, das Leitungsduo der Tanzcompagnie am Gerhart-Hauptmann-Theater in Görlitz, konnten die Aufführungsrechte am Original erwerben – und formten daraus, weltweit offenbar einzigartig, ein musicalhaftes Tanzstück. Für die Geschichte um den Jungen, der nie erwachsen werden will, wie sie der schottische Autor James Matthew Barrie um 1902 erdachte, dann in Theaterstück und Buch niederlegte, erfand man in der Neiße-Stadt eine eigene Lesart. Und die trägt in einer Koproduktion von Tanzcompagnie und Musiktheater sehr unterhaltsame 75 Minuten.
Fotos © Pawel Sosnowski
Sie spielt hier im Schlafsaal eines Waisenhauses. Und damit klar wird, es handelt sich alles womöglich nur um einen Traum, hat Ausstatter Markus Pysall den Raum nach hinten perspektivisch zulaufend und auch seine Wände schief entworfen, alles bis zum Boden in Weiß. Mr. Darling leitet das Haus und achtet pedantisch auf Ordnung. Seine Frau hingegen lässt den Kindern mancherlei durchgehen, sie dürfen über die Betten toben und lauschen dann ihrer Gute-Nacht-Geschichte: eben der von Peter Pan. Das stachelt sie zum Nachspielen an. Zuvor sinniert Brieann Pasko als singende Wendy darüber nach, wer sie ist, auch über Tod und Wiedergeburt. So ernst bleibt es indes nicht. Denn Peter, ein befreundeter Straßenjunge, purzelt durchs Fenster hinein, tanzt mit Wendy und erhascht auch seinen Schatten wieder, der sich in einer Truhe verfangen hatte. Als Mrs. Darling die Kinder beim nächtlichen Herumtollen erwischt, lässt sie zum Gaudi aus dem Wandschrank für sie Luftballons aufsteigen. Das ermuntert zum Verkleiden in die Rollen der vorgelesenen Geschichte. Baut mein Haus aus Holz, fordert eine Arie. Die Kinder nehmen das wörtlich und bilden flugs die Betten zu einer Hütte um, einem Haus der Liebe. Auch die größeren Kinder des Nachbarzimmers, gespielt vom Gesangsensemble, stoßen zu ihnen. Einer mimt Käpt’n Hook: Esst Blut, trinkt Blut, fordert er augenzwinkernd rachedurstig.
Die Pan-Story hat ihre Protagonisten. Peter wird von Hook zum Aushungern auf einen Turm aus Betten gejagt, Wendy befreit ihn, beide tanzen unten froh. Dann soll Peter vergiftet werden, Tinker Bell opfert sich, kann aber wiederbelebt werden. Aus Bett-Teilen besteht ebenfalls der riesige Schiffsmast, an den die Piraten Wendy fesseln. Als auch das misslingt, will Hook alle über Bord werfen: Von einer aus der Wand klappenden Planke lassen sich die Kinder dazu mutig in ein Bett fallen. Symbolisch tauchen drei spaßige Nixen auf. Hook fühlt sich verspottet und klagt voller Tragik und in großer Arie, dass kein Kind ihn liebt. Schließlich kommt es zum Kampf zwischen Piraten und Kindern, hier eine fröhliche Kissenschlacht. Mr. Darling beendet den lärmenden Spuk, Umbau zum Schlafsaal. Fast alle Kinder reisen zu Pflegeeltern ab, nur Wendy bleibt. Träume mit mir heute Nacht, singt sie Peter entgegen. Der jedoch entwischt durchs Fenster zurück in seine Freiheit der Straße.
Mit leichter Hand haben die Choreografen Dan Pelleg und Marko E. Weigert in Zusammenarbeit mit der Tanzcompagnie ihr Stück inszeniert, wissend, dass es galt, zwei verschiedene Sparten in Einklang zu bringen. Wie Buyan Li als tenoraler Hook und besonders Sopranistin Brieann Paskos Wendy sich in die zeitgenössische Bewegungssprache eingebunden haben, nötigt Respekt ab. Wendy lässt sich von Peter heben und schleudern, rollt über seinen Rücken und ist allzeit darstellerisch präsent. Jacob Borchert Vahlun als quicklebendiger Peter ist ihr dabei ein helfender Partner. Viel gestaltende Gestik setzen die Inszenatoren ein, können auf den Spielspaß des gesamten Teams bauen und erreichen in den Duetten wie in manchen Ensembles Tanz von Format. Unterstützt werden sie tatkräftig von Bernsteins Musik: zwischen Klingklang, Wasserplätschern und Vogelgezwitscher, zarten Tönen und synkopenreicher Spannung, die bereits an sein nur sieben Jahre später, 1957, uraufgeführtes Meisterwerk „West Side Story“ erinnert. Wie viel Leben ihr die Neue Lausitzer Philharmonie unter dem Dirigat von GMD Ewa Strusińska einhaucht, macht den Abend rund. Man darf gespannt sein, ob „Peter Pan“ andere Theater zur Nachahmung erobert. In Görlitz jedenfalls entlockt er den Zuschauern Juchzer der Begeisterung.
Für das Duo Pelleg-Weigert endet in ihrer dreizehnten Saison und nach vielen erfolgreichen Produktionen das Görlitzer Abenteuer: Sie kehren nach Berlin zurück und firmieren dort wieder als wee dance company. Ihnen folgt als neuer Ballettchef und wohl mit künstlerisch anderer Ausrichtung der Italiener Massimo Gerardi am Gerhart-Hauptmann-Theater nach.