Tanz über ein Tabu: der Muttermord.
Tarek Assam brachte am Harztheater Halberstadt eine bezwingende Inszenierung von „Elektra“ auf die Bühne
von Alexandra KARABELAS
Dass im Schauspiel Tragödien der griechischen Antike regelmäßig auf dem Spielplan stehen, ist bekannt. Weniger häufig findet man entsprechende Stoffe auf der Tanzbühne. Am Harztheater in Halberstadt wagte nun Tarek Assam dieses Unterfangen, und durfte als Dank dafür mit seinem Ensemble und Team Standing Ovations eines vollen Hauses entgegennehmen. Angetan hatte es dem Tanzchef der Mythos Elektra, der von einem der größten Tabus erzählt, das heute noch existiert: vom Muttermord durch die Tochter. Wie erzählt Assam, der immer wieder starke Frauenfiguren in seinen Stücken kreiert, zuletzt in „Die Winterreise“, das Schicksal Elektras, im griechischen Mythos die Tochter Agamenons, der in den Trojanischen Krieg zog und nach seiner Rückkehr von seiner Frau Klytaimnestra heimtückisch im Bad ermordet wurde?
Auffallend ist, dass Assam weniger den Schwerpunkt auf die Psychologie der Hauptfigur legt als vielmehr auf die Umgebung, in der Elektra leben muss und in der sie für ihre Bedürfnisse keine Resonanz findet – im Gegenteil. Stumm, voller Anmut, Schönheit, aber auch Zurückgenommenheit im Blick begegnet das Publikum ihrem Halbportrait als Videoprojektion, kaum hat es im Theatersessel Platz genommen. Dabei laufen Lichtlinien und Rechtecke wie ein Scanner über das wunderschöne Gesicht von Ting-En Chiang. Sie ist unter Beobachtung, in einer Gesellschaft, die selbst ihre Leichen im mit Rauchnebel angefüllten Keller hat, so das erste Bild, kaum wird die Projektion auf Halbhöhe gezogen. Das Video zeigt derweil ihren Rücken. Sie schaut in die Ferne, dorthin, wohin der Vater Agamemnon in den Krieg gegen Troja verschwunden war und sie zurückgelassen hatte. Man spürt ihre innere Verwirrung, Vereinsamung und beginnende Kälte. Später, als er vom Krieg zurückgekehrt ist, springt sie ihm auf der Bühne heftig in die Arme, hält ihn, ohne ihn halten zu können.
Fotos. © Rolf K. Wegst
Das Verhältnis zur Mutter ist distanziert, und wenn es Nähe gibt, dann nur in Form von Streit. Eine Vielzahl an Bewegungen, wie harte Schnitte aneinander choreografiert und platziert im nahen Umraum um den Körper oder im Zwischenraum, erzählt von dem sinnlosen Umgang der beiden miteinander. Alessia Rici gelingt es dabei formidabel, die um ihre eigenen Bedürfnisse drehende Mutter und betrügende Gattin darzustellen. Das Trio zwischen ihr, Daniel Moret Chanzà als Agamemnon und Cristian Colatriano als Liebhaber gerät wenig später zu einem weiteren Höhepunkt im Stück.
Fatal: Assam erlaubt Elektra kein Entrinnen von diesem ihrem Heimatort, der von silbernen Metallstäben rund um eine Rotunde in der Mitte gesäumt ist und der auch eine kalte, verlassene Bar von schlechter Atmosphäre im Keller eines Hauses sein könnte. In einem langen Solo dort zurückgelassen, schlägt sie voller Selbsthass und Verzweiflung auf die Metallstangen ein, auf denen ihr ihr Gesicht als projiziertes Selbstportrait entgegenblickt.
Elektras Umgebung der Kälte, der Angst und der Ignoranz modelliert Assam auch und vor allem mit Hilfe des Ensembles. Assam hält es praktisch die ganzen fünfundsiebzig Minuten in Präsenz und Bewegung auf der Bühne. Mal sind sie nur zu dritt, mal zu fünft, mal zu acht. In der Hand werden immer wieder Äxte gehalten oder eingeschlagen. Nie gibt es ein Innehalten, ein Verharren, etwas wirklich Menschliches oder Zugängliches unter ihnen. Die Bewegungssprache betont stattdessen schnelle Arbeit am Boden. Fallen und Rollen werden zu Vorbereitungen für kurze eruptive Sprünge. Die Beine, Arme und Hände vollführen oft mit harter Kante und oft herrschaftlichem Gestus klare Bewegungen des Hiebens und Trennens. Die Gesichter sind undurchdringlich und bewegungslos. Annett Hunger hat das ganze Ensemble raffiniert mit mehrlagigen Hosen, Röcken und Oberteilen aus fließenden Stoffen und schwarzem Leder ausgestattet, zudem mit weiten Kapuzen, die die Undurchschaubarkeit und Härte der Gestalten am Hof noch verstärken.
Essentieller Bestandteil dieser „Elektra“-inszenierung ist die Auftragskomposition von Patrick Schimanski, dem es auf inspirierende Weise gelungen ist, Gitarrenriffs mit metallisch klingenden Soundflächen zusammenzudenken oder unregelmäßige Beatfolgen mit Sprachfetzen oder Tönen, wie man sie von ratternden Motoren oder Körpermessgeräten kennt, zu collagieren. Virtuose Wechsel zwischen den Passagen kommentieren nicht nur das bezwingende Bühnengeschehen, sondern treiben es, ebenso wie der immerwährende Tanz der Gruppe, ohne Brüche nach vorne auf die Katastrophe zu: die Auseinandersetzung Agamemnons mit seiner Frau, sein Bad in der Wanne, seine Tötung durch sie. Dann, in sinnlich-opulenten Bildern, wie man sie aus einer Opern-Inszenierung kennt, das theatralisch inszenierte Ermorden der Mutter und ihres Liebhabers durch Elektra, gemeinsam mit ihrem Bruder Orest. Man fühlt den Schmerz Elektras, wenn sie zum Schluss alleine in der Rotunde, umgeben von Metallstäben, nicht aufhört, ihren Körper zu waschen, während die johlende Gesellschaft sich von ihr distanziert, sie alleine lässt und isoliert. Inszenatorisch kommen so Tanztheater, Handlungsballett und die Dynamik des abstrakten zeitgenössischen Tanzes in einem Gesamtkunstwerk zusammen – Bravo!