Solveig (Katja Wünsche) und Peer Gynt (William Moore)
Kritiken

Traumwelten und Hirngespinste von Clug/Grieg/Ibsen

“Peer Gynt” und Edward Clug suchen das Opernhaus Zürich heim. Es ist ein zauberhafter Abend mit einem großartigen William Moore in der Titelrolle des abendfüllenden Balletts nach Henrik Ibsens gleichnamigem Drama zur Musik von Edvard Grieg. Norwegens mystische Bergkönige, Trolle und Sennerinnen in der Schweiz; Phantast und Weltenbummler Peer Gynt in Zürich – das passt gut. Und die Company arbeitet sichtlich gerne mit dem rumänisch stämmigen Choreografen zusammen.

Clug hat für das Ballett Zürich bereits “Hill Harper’s Dream”, “Chamber Minds”, “Sacre” und “Faust” choreographiert und überlässt ihm nun nach der Uraufführung 2015 in Maribor und Einstudierungen in Riga, Nowosibirsk und Wien auch seinen “Peer Gynt”.

Im Grunde genommen ist Peer Gynt ein Tölpel, der sich aus seiner Armut herausträumt, Heldengeschichten erzählt, schnell handgreiflich wird und hungrig von einer Geliebten zur nächsten wandert. Mehrmals springt er dem Tod von der Schippe, wird reich, irrt durch die Wüste Marokkos und landet in einem Irrenhaus in Kairo, bevor er zurück nach Norwegen geht, zurück zu Solveig, die ein Leben lang auf ihn gewartet hat. Schade, hat man sie – Katja Wünsche – nicht länger tanzen gesehen, denn Wünsche/Moore sind einfach ein Traumpaar auf der Bühne. Ihr erster Pas de Deux an der Dorfhochzeit ist verspielt, präzise und von solch einer Vertrautheit, dass man sich fragt, warum Peer Gynt sie überhaupt verlassen hat. Klar, er sucht sich selbst und er ist eine vielschichtige Figur, lauter Hüllen, Masken, aber kein fester Kern – wie eine Zwiebel, bringt es Ibsen auf den Punkt.

Clug erzählt gut. Obschon die Fantasy-Elemente aus dem Reich der Erdgeister, die in fantastischen Kostümen von Leo Kulaš Gestalt werden, viel Raum einnehmen, sind sie dennoch nicht so effekthascherisch eingesetzt wie 2018 in Goethes “Faust”, von dessen Textvorlage Clug überfordert war. Ibsen ist nicht einfacher, Peer Gynt und Dr. Heinrich Faust sind in ihrem grenzüberschreitenden Streben durchaus vergleichbar, aber indem Clug der Titelfigur eine Todesfigur (Daniel Mulligan) und einen eleganten weißen Hirschbock (Cohen Aitchison-Dugas) zur Seite stellt, ermöglicht er eine Dynamik des Jagens und Gejagt-Werdens. Diese erhält durch das Bühnenbild (Marko Japelj) mit seiner hellen Ellipse und dem zerklüfteten Felsen eine Dringlichkeit, der schwer zu entrinnen ist.

Nicht entziehen kann man sich der Musik Edward Griegs, die die Erzählung unterstützt, teils geerdet und volkstümlich, teils romantisch-entrückt. Victorien Vanoosten dirigiert die Philharmonia Zürich, und es werden nicht nur Griegs Peer-Gynt-Suiten gespielt, sondern auch zwei Sätze aus dem Klavierkonzert (op.16) und Auszüge aus dem Ersten Streichquartett.

Der erste Akt spielt in Norwegen und fokussiert die ambivalente Beziehung zwischen Sohn und Mutter (Francesca dell’Aria), die, im Sterben liegend, ihrem verträumten Tunichtgut noch den Hintern versohlt. Das war wohl gang und gäbe im 19. Jh., wirkt aus heutiger Sicht aber ähnlich antiquiert wie die ewig wartende Solveig.

Während der erste Akt mit den deformierten Trollen, verführerischen Sennerinnen und der grotesken “Grünen” (Inna Bilash), des Bergkönigs Tochter, die mit Peer Gynt ein Kind hat, eher visuell als tänzerisch aufregend ist, ist der zweite Akt zwar tänzerisch variantenreicher, aber er zieht sich dramaturgisch gesehen in die Länge. Zur berühmten “Morgenstimmung” entfaltet sich ein orientalisches Szenario mit roten Teppichen und Haremstänzerinnen, die Peer Gynt den Kopf so verdrehen, bis er bei einem dubiosen Arzt (Dominik Slavkovský) in der Psychiatrie landet, wo er von den Patienten zuerst traktiert und dann zum König gekrönt wird. König sein – das war Peers Kindheitstraum, aber wohl in einem anderen Reich. Das ganze Ensemble rast und zuckt in weißen Kitteln als ein ballet blanc der anderen Art, Mats Eks “Giselle” steckt wohl dahinter.

Doch das ist noch nicht die letzte Station: Peer, gebrochen, ergraut, verzweifelt, schleppt sich, von Erinnerungen an ein verpatztes Leben geplagt, zurück gen Norden, wo Solveig ihn in ihr Haus aufnimmt. Ob Norwegens Geister, Peer Gynts Träume und Hirngespinste dieses Mal wohl draußen bleiben?

Das Premierenpublikum bedankte sich beim Orchester und beim Ballett Zürich mit großem Applaus für Edward Clugs “Peer Gynt” – interpretiert mit Haut und Haar von William Moore.

Evelyn Klöti