"Un Heaven" Ana Greenberg Foto Wilfried Hoesl
Kritiken

Tanzverführung im Verkleinerungsverhältnis

Das Bayerische Junior Ballett München präsentiert sich im Digitalformat „MONTAGSSTÜCK XII“ der Bayerischen Staatsoper mit einem Dreiteiler erstmals online.

Bildschirmgröße statt Bühnenportal. Die Pandemie zwängt dem Tanz neue Maßstäbe auf, seit man Künstler nur mehr auf digitalen Übertragungswegen zu sehen bekommt. Die Schärfe von Raumtiefe und Wirkung von lichtdesignter Atmosphäre bestimmen Bildauflösung und Screenoberfläche. Das zeigt sich deutlich beim Experiment, den ersten Online-Ballettdreiteiler des Bayerischen Junior Ballett München parallel über den PC (größer, aber stumpfig-grauer) und ein Tablet (farbsattere Hochglanzqualität im Kleinformat) zu verfolgen. Gut, dass die angehenden Profis, die hier antreten um Berufserfahrung zu sammeln, von derartigem Kritiker-Schnickschnack nichts mitbekommen. Es reicht, dass sie zu spüren lernen, was es heißt, ohne jeglichen Schlussapplaus gegen ein Vakuum von Leere anzutanzen.

Immerhin wappnet einen das technische Doppelspiel vor längeren Blackouts, wenn mal die Internetverbindung zur Hauptschauzeit aussetzt. Hübscher Nebeneffekt: Unterschiedliche Geräte streamen leicht zeitversetzt. So kann man einige choreografische Konstellationen gedanklich ins Dreidimensionale ergänzen, die sich in Schnitten und Überblendungen der Kameraeinstellungen allzu schnell verlieren.

Besonders klar wird das im zentralen und rundum stimmigsten Beitrag dieses Abends bei der Übertragung von Maged Mohameds „Stimmenstrahl Trio“ aus dem Jahr 2017 (Musik: Rachmaninow und Jacopo Salvatori, vom Band). Einer wunderbar fließenden und dabei sehr skulptural in Klang und Raum geformten Choreografie. Normalerweise zumindest. Nun ist man für den sphärischen Tiefeneffekt meist zu nah dran an den schön ausgeführten Figuren und Hebungen der neuen Besetzung – der aus Malta stammenden Phoebe Schembri und ihren italienischen Volontär-Kollegen Jacopo Iadimarco und Camillo Lussana. Dennoch vermag die große gegenseitige Achtsamkeit und das stets symbiotische Dreiecksverhältnis durch innere geistige Spannung zu bannen – dank der totalen Fokussierung auf nichts anderes. Ohne Fluchtlust oder den homeoffice-immanenten Drang, doch noch etwas nebenher zu tun. Bravo!

„Unsterbliche Geliebte“ Fotos Wilfried Hoesl

Um nun auch die seit Frühjahr 2020 verschobene Kreation „Unsterbliche Geliebte“ von Jörg Mannes endlich auf die Bühne zu bringen, musste die 16-köpfige Nachwuchskompanie unter Leitung von Staatsballett-Ex-Chef Ivan Liška drei Anläufe unternehmen. Krass für die jeweils bloß zwei Spielzeiten lang entweder als Stipendiaten der Heinz-Bosl-Stiftung oder als Volontäre des Bayerischen Staatsballetts engagierten Talente im Alter zwischen 17 und 20 Jahren. Da wirken vier abgesagte Bosl-Matineen und keine Tourneeauftritte zum Karrierestart wie ein Zurückspul-Tsunami. Losgelassen auf das Stück schlagen sich die Youngster aber beachtlich!

Niemand weiß, was Mannes – zuletzt Ballettdirektor und Chefchoreograf in Hannover – ursprünglich zum 10. Jubiläum der Kompanie auf die Musik von Beethovens 4. Klavierkonzert eingefallen war. Alles verworfen, bekennt er im Pauseninterview. Geblieben ist die an Stimmungswechseln und Überraschungseffekten reiche musikalische Folie, fein austariert wie die Balancen der Tänzer von der jungen Julia Hermanski am Klavier. Jetzt vom Bayerischen Staatsorchesters (statt von dessen Jugendensemble Attacca) begleitet. Herrlich herausfordernde Klänge also für ein wild verspieltes Tableau voll gruppenformaler Strenge, bauchfreien Damen auf Spitze und einer mitreißenden Dynamik, an der alle 16 Tänzerinnen und Tänzer teilhaben. Und Mannes hat weder gespart an sich auf- und abbauenden Schlangenformationen, diversen sanduhrartig dahinrinnenden Reihenanordnungen noch an intimeren Quartetten, Trios und Pas de deux.

Solistisch führen die abstrakten Szenen, deren Dreh- und Angelpunkt das Nachspüren von Diskrepanzen zwischen Realität und Ideal sind, Anna Greenberg, Phoebe Schembri, Joaquin Angelucci und Hélian Potié an. Zwar verzerrt die nicht eigene (Kamera)Linse immer wieder den choreografischen Gesamteindruck. Aber mit dem Blick genau dorthin gelenkt zu werden, wo das mit mal volkstümlichen und oft modernen Elementen durchwirkte Schrittmaterial auf klassischer Basis es sprichwörtlich in sich hat, macht einen Heidenspaß.

„Stimmenstrahl“ Foto Wilfried Hoesl

Zum Abschluss wird man von Choreografin Martina La Ragione ästhetisch auf eine Wolke aus weißen Federn geschleudert. „UnHeaven“ entstand zum mehr oder minder entfallenen Orff-Jahr und beglückt (bzw. entsetzt auch laut Watch-Party-Kommentaren) mit dem Frühwerk „Tanzende Faune“ aus der Feder des damals 18-Jährigen. Weil aus dem Off und verknüpft mit Auszügen aus „Musica Poetica“ (Orff & Gunild Keetmann), wähnt man sich zu Anfang in einer Aufführung des Orff-Schulwerks.

Dass sich hier dunkle und helle Energien zu einem faunischen Tanztheater-Trip für elf Interpreten bündeln, lässt sich sogar an den Kostümen ablesen. Beim Verwirbeln der weißen Pracht spielen Bewegungsdetails eine untergeordnete Rolle. Für den Schwindel im Zuschauerkopf sorgt die Kamera. Sie kreist fast permanent über dem Treiben im fedrig unhaltbaren Element. Ein tolldreistes Seherlebnis. Irritierend perfekt für ein gestreamtes Werk über Metamorphosen.

Vesna Mlakar