Mit reichlich Jazz und zehn Uraufführungen zündet Eric Gauthier im Theaterhaus seine „FireWorks“
von Angela REINHARDT
Das Stuttgarter Theaterhaus, die Heimat von Gauthier Dance, feierte in diesem Jahr sein 40-jähriges Jubiläum, und obwohl Eric Gauthier mit seiner Truppe noch nicht einmal die Hälfte dieser Zeit dort residiert, zündete er reichlich Raketen für seinen Chef Werner Schretzmeier. Genauer gesagt zehn davon – denn Gauthier lud für „FireWorks“ mal eben zehn internationale Choreografen für kurze Uraufführungen ein. Er legte ihnen eine Liste mit 40 Jazzsongs vor, die während dieser Zeit live im Theaterhaus gespielt wurden, ließ sie einen Titel aussuchen und wob aus den Stücken, die zu dieser Theaterhaus-Musik entstanden, das dichte, abwechslungsreiche „FireWorks Project“.
Vor der hohen Ziegelrückwand im größten der vier Säle (das Theaterhaus war einmal eine Fabrik) ist den 16 wunderbaren Interpreten von Gauthier Dance ein roter Tanzteppich ausgerollt. Wie in einer Arena sitzen sie rechts und links am Rand, aufgereiht hinter ihnen jede Menge abstrakte oder nostalgische Kostüme, mit denen Gudrun Schretzmeier jedes Stück passend ausgestattet hat. Zu schräger Balkan-Blasmusik eröffnet Hauschoreograf Barak Marshall den Reigen mit acht Paaren, die sich aus gesitteter Foxtrott-Haltung in wilde Tanzlust stürzen, mit übermütigen kleinen Kicks, einem hohen Bein hier und einen Wurf in die Luft dort. Darauf folgen stille Duos, entspannte oder auch beklemmende Gruppenstücke, fast alle ungemein musikalisch choreografiert und wahrscheinlich sogar durch ihre prägnante Kürze so spannend geraten.
Dominique Dumais „Hold me Now“ © Jeanette Bak
Die Würzburger Ballettdirektorin Dominique Dumais etwa lässt zu Laurie Andersons pulsierendem „O Superman“ Wellen durch eine identisch gekleidete Gruppe laufen und irritiert deren mechanisches Ostinato immer wieder durch kleine Abweichungen. Die Coolness des Stücks, seine exakte Geometrie würde auch der Gruppe Kraftwerk perfekt stehen, aber vielleicht ist es auch ein Kommentar auf die derzeitig erfolgende Gleichschaltung der USA; schon damals 1981 stellte Laurie Anderson die Supermankräfte ihres Heimatlandes in Frage. Die Kanadierin Virginie Brunelle greift zu Musik von Philip Glass die Handlung seiner Oper „Les enfants terribles“ auf und lässt, gespiegelt in drei Schattenpaaren, die selbstmörderische Schwester bedrohlich um ihren Bruder kreisen. Was leider etwas unentschieden endet.
Frei nach dem Motto „I’m Old Fashioned“ stellen die Altmeister Mauro Bigonzetti und Johan Inger den Wert der zarten Miniatur heraus. Der Italiener, stets zur Stelle, wenn Gauthier ihn ruft, schuf zum gleichnamigen Song von Jerome Kern ein nachdenklich lächelndes Duo, das sich lasziv in die Blues-Version von Chet Baker schmiegt und in einer Pose von rätselhafter Schönheit endet. Den Moment, in dem eine kurze, intensive Begegnung zur Erinnerung wird, zeigt der Schwede Johan Inger zu traurigem Glockengeläut des Kronos Quartets: Immer und immer wieder kehren die zwei Tänzerinnen um, nehmen einzeln und für sich alleine herzzerreißenden Abschied – was für ein zärtliches, melancholisches Stück, einer der Höhepunkte des Abends.
Stijn Celis „Thinkin about!“ © Jeanette Bak
Andonis Foniadakis „Ma Sharona“ © Jeanette Bak
Das amerikanische Verständnis von Jazztanz führt Benjamin Millepied zur „Hymn to Freedom“ des Oscar Peterson Trios vor: Ein wenig oberflächlich in der Ästhetik, aber mit dem „West Side Story“-Rhythmus in den Gliedern zeigt der Franzose vier junge Leute, die in Zeiten wie diesen und zu einem Song auf die Freiheit eigentlich viel zu entspannt agieren. Die knallbunten Gym-Klamotten peppen das Ganze deutlich auf. Das Originellste an „Sharona“ von Andonis Foniadakis ist musikalische Adaption des alten Hits von „The Knack“ für die Stimme der Sängerin Erika Stucky und eine knarzige Basstuba. Selbst das Herumwuchten einer Tänzerin durch drei Herren kann die Dauerhektik des griechischen Choreografen nicht beeinträchtigen. Nostalgisch wird es mit Sofia Nappi, dem Shooting-Star aus Italien – sie inszeniert tatsächlich eine elegante Bohème zu Charles Aznavours gleichnamigem Song, in dandyhaft fließenden, schön phrasierten Bewegungen und doch mit einem intellektuellen Misstrauen. Mit coolem Understatement und feinster Musikalität zeichnet der Saarbrücker Ballettchef Stijn Celis klare Linien zu Bobby McFerrins Sologesangsrhythmen. Das Stück endet in Stille – und dann tanzt Anneleen Dedroog, souverän wie immer, viel zu lange ohne Musik.
Bruna Andrade in Marco Goeckes Pina-Bausch-Hommage „Infant Spirit“ © Jeanette Bak
Verblassen muss fast alles neben Marco Goecke, dessen virtuose Bewegungsfindung zwischen Schönheit und Schrecken einfach jeden Abend sprengt, hier im fulminanten Duo „Monstruo Grande“ zur dringenden Stimme von Mercedes Sosa. Shori Yamamoto kämpft und sucht lange alleine, bevor Sidney Elizabeth Turtschi zu ihm stößt. Seit seiner einjährigen Schaffenspause zeigt Goecke, neuerdings ohne die tarnende Sonnenbrille, die Emotionen zwischen zwei Menschen deutlicher, nähert sich mit gestreckten Beinen oder rasanten Pirouetten ein wenig mehr dem Ballett an, spielt noch virtuoser zwischen Alptraum und pointillistisch hingetupften Momenten der Schönheit.
Eric Gauthier „ABC“ © Jeanette Bak
Andonis Foniadakis „Bolero +“ © Jeanette Bak
Am Schluss lässt Barak Marshall die Truppe wie ermattete Tanzmaschinen zu Boden sinken – der trockene Humor des neuen Hauschoreografen steht Gauthiers Truppe perfekt. Der zweite Teil des Abends bringt dann Wiederbegegnungen mit vier Stücken aus dem Repertoire, etwa Gauthiers originellem Ballett-Erklär-Solo „ABC“, mit schönster Technik und reichlich Ironie getanzt von Shori Yamamoto. Das harmlos-hübsche „Lickety-Split“ von Alejandro Cerrudo tanzen nun die Gauthier Juniors, denen beim Trampolin-„Boléro +“ von Foniadakis acht Tänzer der Haupttruppe beigesellt werden – was das steigerungs- und strukturlose Stück vielleicht spektakulärer, seine Choreografie aber keineswegs besser macht. Einen Wuppertal-reifen Auftritt legt die großartige Bruna Andrade in Goeckes Pina-Bausch-Hommage „Infant Spirit“ hin – zögernd, flüsternd, ängstlich und dann doch so mutig in einem introvertierten Stück, das mit einer anspielungsreichen Nelke im Knopfloch endet: in klassisch-Goeckescher Doppeldeutigkeit sowohl Zeichen der Verehrung für die Tanztheaterikone als auch Bild für den Clown, zu dem der junge Pina-Verehrer sich fortan machen wird. Es bleibt nach einem spannenden, reichen Abend die Frage, wie Eric Gauthier zehn Uraufführungen in einen Abend packen kann und das Stuttgarter Ballettflagschiff im Staatstheater, finanziell um ein Mehrfaches besser ausgestattet, in dieser Spielzeit keine einzige schafft.