Eigentlich war die Premiere im vergangenen Herbst. Aber erlebt haben „Solitude“ wohl nur die wenigsten, zumindest nicht in der Interpretation des Leipziger Balletts. Pandemiebedingt, war die Platzangebot ohnehin schon reduziert, und als kurz darauf der nächste Lockdown folgte, war an eine weitere Aufführung der Choreografie nicht mehr zu denken. Eigentlich eine Situation zum Verzweifeln, für Mario Schröder indes ein Ansporn, es allen Widrigkeiten zum Trotz ein weiteres Mal zu versuchen. Eine zweite Premiere also, diesmal als Livestream, eine Premiere, die sich immerhin 48 Stunden lang sehen lassen konnte.
Alle Fotos © Ida Zenna
Bei „Solitude“ handelt es sich nicht um die Schlossanlage unweit von Stuttgart, auf der sich in herzoglichen Zeiten einst eine erste Ballettschule befunden hat. „Solitude“ meint hier im ursprünglichen Sinne des Wortes „Einsamkeit“ – ob ungewollt oder selbstgewählt, das ist hier die Frage. Kaum dass sich der Vorhang hebt, wird sie auch schon beantwortet. Das Gitterwerk von Paul Zoller, einschüchternd in seiner Zellenhaftigkeit, lässt einen immer wieder den Lockdown spüren, selbst wenn es sich hebt wie zunächst in dieser Aufführung. Einheitlich gekleidet in weiße Overalls und Maskenschutz, zeigt sich das Ensemble als ein wogendes Ganzes, bevor es sich selbst erst die Grenzen setzt, die es später gesondert zu überwinden gilt: ein beeindruckendes Bild, aus der Schnürbodenperspektive vorgestellt, das so wohl nur im Stream seine ornamentale Schönheit ganz entfalten kann.
Anderes bleibt bei der Aufzeichnung dagegen eher im Dunkel, und die Totale vermittelt allenfalls andeutend den Eindruck, den man im Theater gewinnen kann. Das ist natürlich schade, weil Schröder die Einsamkeit eher im Verlust von Gemeinsamkeit bespiegelt. Sicher, es gibt Soli in „Solitude“. Soweit erlaubt: auch Duette, um das Berührende sichtbar zu machen. Doch eigentlich ist das Ballett eine Gruppenchoreografie in der Nachfolge von Uwe Scholz, der an diesem Abend immer wieder spürbar wird, selbst wenn Mario Schröder auf seine Weise choreografiert: weniger klassisch durchgeformt als sein Lehrmeister, dafür aber symbolkräftig aufgeladen und geradezu spektakulär zwischendurch in seinen Massenformationen vornehmlich zu Sätzen aus dem „Stabat mater“ von Antonio Vivaldi, der Schröder Musik von Johann Sebastian Bach und Peteris Vasks entgegen setzt.
Mit der Sinfonie Nr. 5 von Galina Ustvolskaya endet das Stück nach gut einer Stunde: kein „Amen“, das man so in der Kirche hört; auch kein Schluss, den man so nach dem Vorangegangenen erwarten würde. Schröder platziert die fünf Musiker, die hier das Gewandhausorchester repräsentieren, auf der Bühne – und Yuriy Mynenko, der wunderbar feine Countertenor aus der Ukraine, singt hier nicht, sondern schleudert sprechend die Gebetworte verzweifelt in den Raum, als wollte er auch akustisch eine Zäsur setzen. So wie das Mario Schröder zuvor sichtbar getan hat, der mit seinem Schreckensszenario die Möglichkeit nicht ausschließt, dass nach dem Ende der Corona-Krise die Situation unserer Gesellschaft anders ist als zuvor.
Hartmut Regitz