Ein berührender wie bewegender ”Schwanengesang“ nach dem Liederzyklus von Franz Schubert in einer Choreografie von Andreas Heise mit dem Ballett der Oper in Graz
Da ist dieser Raum auf der Vorderbühne des Grazer Opernhauses. Ganz nah an den Menschen. Und da sind sie, in diesem Raum mit dem Flügel und den Kirchenbänken, auf denen sie sitzen können, zur Besinnung, um Abschied zu nehmen, um auszuruhen, um sich nahe zu sein, um sich der Einsamkeit hinzugeben im Schutz des Theaters, wenn dieser hier zum regelrecht spirituellen Raum wird.
Fotos: © Ian Whalen
Da sind die sie, die Tänzerinnen und Tänzer, Fabio Agnello, Michele Tirapelle, Giulio Panzi, Rosa Maria Pace, Yannick Neuffer, Mireia Gonzalez Fernandez, Isabel Edwards, Kirsty Clarke, Ann-Kathrin Adam, Stephanie Carpio, Lorenzo Galdeman, Lucie Horná, Philipp Imbach, Frederico Oliveira, Christoph Schaller, Marina Schmied, Paulio Sóvári und Beate Vollack. Letztere leitet die Grazer Kompanie und sie hat einen Brief geschrieben, an Franz Schubert: „Geliebter Franz!“, einen Brief an die Vergangenheit aus Graz, wo Schubert im letzten Jahr seines Lebens lebte, bevor er im Alter von nur 31 Jahren starb. Und mit diesem Brief beginnt dieser Grazer “Schwanengesang“, bevor man in den Zuschauerraum geht, in einer ganz besonderen Form der Einführung, weit ab vom üblichen Aufzählen von Fakten und Namen. Die Tänzerin, im Kostüm einer Schubert-Zeitgenossin, liest ihren Brief mit zartem Ton der Zuneigung bei dennoch traurigem Unterton und eröffnet so, ganz im Sinne einer choreografischen Inszenierung dieser posthum veröffentlichten 14 Lieder von Franz Schubert, jenen folgenden “Schwanengesang“.
Auf der Bühne dann auch jener kleine Schreibtisch, an dem nun auch immer wieder der Bariton Wilfried Zelinka versuchen wird etwas zu Papier zu bringen, etwas erneut zu lesen, um am Ende eben doch jenes so berührende Vermächtnis mit der “Taubenpost“ abzusenden.
Und diese hier besungene Sehnsucht in ihren vielen Varianten ist es auch, die den Tanz, den Gesang, das Spiel des Pianisten Emiliano Greizerstein, beflügelt. Diese Sehnsucht des Gesanges kann in die Höhe des tänzerischen Aufstieges führen aber auch in die Tiefe einzelner Verlassenheit, stärker noch, immer wieder in diese erschütternden Situationen der Einsamkeit zu zweit oder vereinzelt in der Gruppe.

Und dabei sind uns diese Tänzerinnen und Tänzer auf ihren Wegen der so unterschiedlichen Sehnsüchte doch so nahe. Auch wenn sie von Louise Flanagan in sich verbundenen Farbtönen ihrer Kostüme in gewisser Weise einer Realität der Alltäglichkeit enthoben sind. Ihre Gesichter aber, ihre Blicke, ihre Gesten, so könnte man ihnen noch wenige Stunden zuvor in einem Café, auf der Straße, in der Bahn begegnet sein. Das ist eine der ganz starken Wirkungen dieser Aufführung, diese Tänzerinnen und Tänzer auf ihren Wegen des Abschieds und des Zueinanders, eben ihrer „Schwanengesänge“, kommen uns sehr nahe.
Der Sänger gibt ihnen seine Stimme, entweder von der klingenden, schützenden Sensibilität des Pianisten umhüllt, oder auf dessen Sicherheit eines Klangfundaments, um sich auch stimmlich immer wieder in schmerzerfüllte Klangbereiche nicht zu wiederholender Augenblicke zu begeben. Die Tänzerinnen und Tänzer aber, in diesen großartigen, choreografischen Dialog geführt, senden ihre Stimmen, die Klänge der Bewegungen ihrer Körper, gewissermaßen diese inneren Stimmen, in der Freiheit der Wahrnehmung für die höchst konzentriert folgenden Zuschauerinnen und Zuschauer.
Zunächst aber, auch dies sowohl musikalisch als auch optisch von besonderer Intensität, zu Auszügen aus Schuberts Impromptu in B-Dur, ebenfalls postum veröffentlicht, jene Bilder der Träume, der Visionen und des Schmerzes, bevor dann im ersten Lied von der „Liebesbotschaft“ selbst das dahineilende Tempo nicht über die Vergeblichkeit dieses Traumes von einer Geliebten hinweg täuschen kann.
Die Tanzenden dazu in ganz unterschiedlichen Fügungen, Paare, Frauen und Frauen, Männer und Männer, Einsamkeit, Aufbruch, Rückkehr.
Oder im fünften Lied, “Aufenthalt“, der Schmerz im Tanz des einsamen Tänzers im optischen Dialog mit dem Schmerz des einsamen Sängers, dem gleich darauf mit den Tänzerinnen und Tänzern in der abgrundtiefen Aussichtslosigkeit des Liedes jenes Fliehenden, den es in die Welt hinaus treibt, aber auf jenen Wegen, denen eben kein Segen nachfolgt: “In der Ferne“.

Mit dem Lied zu Ludwig Rellstabs „Abschied“, vor allem durch so wunderbar differenzierten Gesang, diese vorantreibende und dennoch der Nachdenklichkeit nicht ausweichenden Begleitung, dem so begeisternden wie aber auch verunsichernden Tanz der Paare, blitzen aber auch so etwas wie Zitate romantischer Ironie auf.
Immer wieder erstaunlich, wie es dem Choreografen Andreas Heise gelingt jeglicher Art möglicher illustrierender Wirkung des Tanzes entgegen zu stehen.
Die dramaturgische Verblüffung, vor dem Lied »Der Atlas«, den Gesang verstummen zu lassen, zwei Schubert-Stücke erklingen lassen, eben jene Briefschreiberin und den Sänger in eine Begegnung der Vergeblichkeit zu führen, die dann, wenn der Sänger am Boden liegt, wie eine mögliche Vorahnung empfunden werden kann, auf die Klage über jene Last die dann auf dessen Schultern liegen wird.
Wenn der Sänger ihr Bild besingt, dann lassen eine Tänzerin und ein Tänzer eben aus jenen dunklen Räumen Momente des lichten Tanzes aufblitzen, tief aus innerer Empfindung, Momente der Hebungen, der Vision vom Aufgehoben sein um dann doch auf diesen Boden jener so einsamen wie unentrinnbaren Tatsachen zurückgehen zu müssen.

Im Lied vom “Doppelgänger“ spielt wieder jener Mantel seine Rolle, den der Sänger erst ablegte, jetzt umhüllt er sich, als wollte er Schutz suchen beim Anblick jenes Solos der Einsamkeit einer Tänzerin.
Noch einmal vermag es der ausdrucksstarke Sänger Wilfried Zelinka mit Momenten so intensiver Darstellung wie denen des Gesanges in berührenden Facetten, bis hin zu solchen der größten Zurücknahme, um somit etwas zu vermitteln von den ungeahnten Möglichkeit musikalischer Visionen, sich ganz tief den bis heute unausgesprochenen Rätseln der Biografie Schuberts zu nähern: Eben jenes Doppelgängers, auf dem Weg in den Abgrund der Einsamkeit. Dafür stehen auch die so eindrücklichen wie zutiefst berührenden Motive einsamer Umarmungen eines nicht sichtbaren, aber eben erahnbaren Menschen, einer Frau, einem Mann, der Tanz lässt diese Bilder der Sehnsucht immer wieder für Momente aufleben.
Am Ende, der Sänger allein, den zu Beginn zerknitterten Brief streicht er mit innerer Hingabe wieder glatt. Jetzt kann er ihn absenden, eben mit jener “Taubenpost“, er wird seine Ankunft nicht verfehlen, und jeder, jede, der oder die ihn erhalten wird, an diesem Abend im Grazer Opernhaus, wird sich seiner Sehnsucht stellen müssen und sich aber auch frage, ob man sie denn wirklich kenne, diese mitunter so tief verborgene Sehnsucht.
Und spätestens dann ist es Andreas Heise gelungen mit der ganzen Kraft seiner so unaufdringlichen, aber dennoch so intensiven Sensibilität seiner Musikalität, den Klang, die Lieder, diese Texte mit ihren so persönlichen Geschichten, den Tanz wie selbstverständlich aus den inneren Stimmen und Empfindungen der Tänzerinnen und Tänzer in diese so eindringlichen Bilder der Sehnsucht des Tanzes zu führen. Und damit ist Heises Choreografie dieses Abschiedsgesanges – das mag wie ein Widerspruch erscheinen – zu einer Choreografie der Ankunft geworden, sie kommt an, bei den Menschen, die sich ihr zu öffnen vermögen. Dies aber dürfte möglich sein, denn schon bald kann man sich hingeben, das Vertrauen wird stark, man wird hier nicht verführt, man wird geführt, ganz nahe hin zu sich. Aber, und auch darin liegt die Kraft dieser Kunst an diesem Abend des Schwanengesanges, in diesem Gesang, in dieser Musik, in diesem Tanz des Abschieds, verlöschen das Licht der Hoffnung und die Kraft der Sehnsucht eben nicht. Das vermag der Tanz, das kommt ganz sicher auch aus dem tiefsten Innern eines Choreografen wie Andreas Heise, dem eben die sensible Kraft eigen ist, Tänzerinnen, Tänzer, den Sänger, den Pianisten, im Lichtdesign von Johannes Schadl, so wunderbar zu sich und somit auch zu uns zu führen. Nahe am Puls der Zeit, aber keine Zugeständnisse an die so oft erhabenen Zeigefinger des Zeitgeistes. Dafür eine starke Einladung der eigenen Sehnsucht zu trauen, sich auf den Weg zu machen, sie zu entdecken, diese individuelle Kraft der Freiheit. Dieser “Schwanengesang“ vermag es, Abschied und Ankunft zu verbinden.
Boris Gruhl