„Self-Deceit“ Ch. Vittoria Girelli© Stuttgarter Ballett
Kritiken

„Creations VII-IX“ beim Stuttgarter Ballett

Nachdenken über sich selbst

Uraufführungen von Vittoria Girelli, Roman Novitzky, Louis Stiens und Shaked Heller

Fotos: © Stuttgarter Ballett

Während der Pandemie haben die Tänzer viel über sich selbst nachgedacht – alle drei Stücke des neuen Uraufführungsabends beim Stuttgarter Ballett beschäftigen sich mit Selbstreflexion, mit Spiegeln, Spiegelungen, gespiegelten Bewegungen. Traditionell kommt in Stuttgart nicht nur der tänzerische Nachwuchs von der hauseigenen Ballettschule, sondern auch der choreografische Nachwuchs aus der Ballettkompanie; ein völlig neuer Stil wie der von Marco Goecke ist derzeit nicht in Sicht, dennoch kann sich auch Ballettchef Tamas Detrich fast blind auf die sich stets erneuernde Kreativität dieser Kompanie verlassen. In den „Creations“-Abenden, deren Beiträge er seit Beginn seiner Intendanz einfach durchnummeriert, kann man derzeit mehrere neue Choreografen beim Wachsen beobachten, im Stuttgarter Schauspielhaus hatten nun die Werke VII bis IX Premiere.

„Self-Deceit“

Vittoria Girelli steigt in der nächsten Spielzeit zur Halbsolistin auf, die Italienerin brilliert vor allem in modernen Stücken. „Self-Deceit“, also „Selbsttäuschung“ heißt ihr dunkel schimmerndes, ebenso elegantes wie unheimliches Werk. So modern, ja eigentlich kühl die sieben uniform gekleideten Tänzer und Tänzerinnen auch umeinander herumgleiten, immer wieder erinnern ihre Formationen an antike Kunst: Ein atmender Berg aus Menschen wie in Gustav Dorés Dante-Grafiken, eine in sich ringende Formation wie die Laokoon-Gruppe. Ein dunkles Violett prägt die Ästhetik, nicht nur das kühle Äußere der Tänzer sorgt für eine ständige, unterschwellige Verunsicherung, als befänden wir uns in einer Art Zwischenwelt. Die Perlenketten um ihre Nacken könnten genauso Hundehalsbänder sein (Girelli hat die Kostüme selbst entworfen), die Morgenröte mutiert plötzlich zu grellen Scheinwerfern, eine zarte Stimmung kippt zu harten Kontrasten. Gespiegelte Bewegungen werden zum Symbol für das Nachdenken über sich selbst, für eine zu große Konzentration auf das eigene Ego – manchmal blicken die Tänzer wie erhabene Vampire ins Dunkel. Genau wie ihre Kollegen hat sich auch Girelli eine Collage aus verschiedenen Musikstücken maßschneidern lassen, sakrale Chöre gehen in Streichquartettsätze über. Am Schluss ist man nicht sicher, ob eine Entwicklung stattgefunden hat oder ob die junge Italienerin einfach die elegante Resignation, das Zurückgeworfensein auf sich selbst als den Zustand der Welt zeigt.

„Reflection/s“

Roman Novitzky, derzeit noch Erster Solist und ab nächster Spielzeit als Choreograf und Fotograf der neue Artist in Residence, erzählt in „Reflection/s“ seine eigene Geschichte und macht dabei den jungen Tänzer Henrik Erikson zu seinem Alter Ego. Jazzpreisträger Magnus Mehl und der Theaterhaus-Komponist Philip Kannicht schrieben ihm eine jazzig-elektronische Partitur, in die Chopin als Erinnerung an den Ballettsaal hineinklingt. Denn dort an den Ballettstangen beginnt das Stück, die Übungen fließen immer wieder assoziativ ein und die Spiegelbilder der Tänzer werden als das nie erreichte Ideal zu mahnenden Schattenbegleitern durchs ganze Leben. Das Corps de ballet steht bei Novitzky für die Erwartungshaltung, die den Einzelnen ständig aus dem Spiegel anblickt, im Auf-der-Stelle-Laufen blitzt der Konkurrenzkampf des Lebens und auch des Tänzerberufes auf.

Selbstreflexion ist also auch hier das Thema, Novitzky aber geht sie wesentlich virtuoser an, mit hohen Hebungen (warum kann das eigentlich kein moderner Choreograf mehr?) und immer wieder beschleunigter Dynamik für sein großes Ensemble. Sein Vokabular ist riesig, der Tanz fließt dicht und expressiv; es sind die klassisch-modernen Bewegungen, aber nur selten erinnert Novitzkys Sprache an ein Vorbild. „Reflection/s“ wirkt ein wenig wie ein Erinnerungsballett im Stil von John Neumeier, aber ohne dessen Pathos; Novitzky wird seinen Weg sicher stiller gehen, er öffnet sich in jedem Werk neue Möglichkeiten. Der Hauch von Kitsch, der ein paar Mal aufkommt, mag am Lichtdesign von Yaron Abulafia liegen, der Miriam Kacerova und Martí Fernández Paixà vor blutroten Wolken wie im Hollywoodfilm tanzen lässt, der die lebendigen Spiegelbilder allzu grünlich einfärbt. Neben den perspektivischen, einengenden Linien gibt es auch noch silberglänzende Elemente – weniger Ausstattung hätte das Augenmerk sicher stärker auf den Tanz gelenkt.

„Ifima“

Tanz wäre etwas Schönes gewesen in „Ifima“, dem Abschiedswerk von Louis Stiens und Shaked Heller, die sich nach dieser Spielzeit selbstständig machen. Als Tänzer brachten sie beide wertvolle persönliche Noten ins Stuttgarter Ballett, als Choreografen nun kriechen, wälzen und leiden sie, winden sich erst im Trockenen, dann im Spritzwasser, gemeinsam mit der hingebungsvollen Angelina Zuccarini, die längst von der quirligen Virtuosin zur expressiven Grande Dame der Kompanie geworden ist. Die Ruinen im dunklen Brackwasser haben die Form überdimensionaler Holzspielzeugbären, womöglich haben wir es mit einer Regression in die Kindheit zu tun. Wer die Langmut für diese kaum variierte Bewegungssprache findet, kann das Stück sicher als Meditation über das Leiden der Generation Z betrachten, für die weniger Geduldigen sah es doch so aus, als gerinne hier Selbstreflexion zu Selbstmitleid.

Angela Reinhardt