Mit „Eternal Spring“ besitzt das High Museum of Art in Atlanta – dessen Sammlung auch ballettrelevante Exponate von Manet, Rouault und Degas vorhält – ein Hauptwerk von Rodin, dessen Titel zugleich Synonym für die vitale Ballettkompanie der Hauptstadt Georgias, zugleich die größte des Bundesstaates, sein könnte.
Dies trifft auch bereits auf die bemerkenswerte Frau zu, die am Anfang des Ensembles stand und die das Tanzen im Alter von sechs bzw. sieben Jahren als Therapie nach einer sehr belastenden Hüftoperation für sich entdeckte: Dorothy Moses Alexander (1904 bis 1986).
Dan Noble, eine ehemalige Tänzerin der Pariser Oper, wurde zu ihrer ersten Lehrerin. Senya Solomonoff, der am Mariinski Theater in St. Petersburg seine Ausbildung absolviert und Karriere begonnen sowie sich hernach der Tournee-Kompanie von Anna Pavlova angeschlossen hatte, folgte in dieser Funktion. Vermutlich auf seine Anregung hin nahm Alexander Unterricht bei Michail Fokin in New York, wobei sie kurz darauf u.a. auch von Ruth St. Denis und Ted Shawn unterwiesen wurde.
Die Gründung des Ensembles
Zurück in Atlanta nahm sie neben ihren zahlreichen tänzerischen Aktivitäten in verschiedenen Stilen ihre pädagogische Arbeit auf und gründete 1929 die Dorothy Alexander Dance Concert Group, welche verschiedenen Quellen zu Folge das erste reguläre Ballettensemble in den USA war. 1943 wurde dieses, weiterhin unter der künstlerischen Leitung von Alexander, in Atlanta Civic Ballet umbenannt. Nur drei Jahre später schrieb sie erneut Innovationsgeschichte, indem das Atlanta Civic Ballet als erste Ballettkompanie in den USA die Gründung eines Sinfonieorchesters unterstützte: Ab 1946 wurde auf diese Weise das Atlanta Youth Symphony (1947 in Atlanta Symphony Orchestra, ASO umbenannt) auch zu einem festen Bestandteil des Ballettlebens der Stadt. Heute verfügt das Ensemble mit dem Atlanta Ballet Orchestra zudem über einen eigenen Klangkörper.
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Mit Bermuda, den Azoren, Island, Japan (inkl. Okinawa) und Korea unternahm das Atlanta Civic Ballet 1953 seine ersten großen Tourneen. Der besondere Bezug zu Inselstaaten sollte das Ensemble auch in seiner weiteren Tourneegeschichte nachhaltig prägen, 1990 z.B. mit einer Reise nach Taiwan.
Regional setzte die Kompanie ebenso Akzente: 1956 initiierte sie das erste „Dance Festival“, dessen künstlerische Leitung sich Alexander und Anatole Chujoy teilten. 1958 stieß mit Robert Barnett einer der Solisten des New York City Ballet zur Kompanie und mit ihm die Erlaubnis von George Balanchine, dessen Fassung des „Nussknackers“ und „Serenade“ ins Repertoire zu übernehmen. Für den „Nussknacker“ erhielt das Ensemble dabei sogar eine Exklusivlizenz.
Auf Basis dieses Erfolgs übernahm Robert Barnett ein Jahr nach dem Rücktritt von Alexander, welche jedoch weiterhin als Beraterin tätig blieb, 1962 die künstlerische Leitung des Atlanta Civic Ballet. Mit „Schwanensee“ und „Dornröschen“ vollendete er die Tschaikowski-Trias und setzte Schwerpunkte beim abendfüllenden Handlungsballett, womit er zugleich auch die Professionalisierung des Ensembles weiter vorantrieb.
Der Schritt zum Staatsballett
Der formale Schritt zum Status der „rein professionellen Kompanie“ wurde schließlich 1967 vollzogen, dabei erfolgte zugleich die Umbenennung in Atlanta Ballet, Inc.
Nach seinem ersten Gastspiel in New York (1972) wurde das Ensemble 1973 durch den späteren US-Präsidenten Jimmy Carter – damals Gouverneur von Georgia – zum „State Ballet of Georgia“ erklärt. Dorothy Moses Alexander wurde darüber hinaus für ihre Verdienste mit dem National Endowment for the Arts Award geehrt, 1981 sollte sie in diesem Zusammenhang auch den Capezio Award erhalten.
Mit einer fünfjährigen Residenz im Brooklyn Center for the Performing Arts (New York) konnte die Kompanie 1983 erneut erfolgreich auf sich aufmerksam machen.
1994 übernahm John McFall die künstlerische Leitung des Atlanta Ballet, der uns auf unseren bisherigen Reisen durch die USA auch bereits als künstlerischer Direktor des BalletMet in Ohio (1986 bis 1993) begegnet ist, von wo aus er nach Atlanta wechselte. Unter seiner Leitung kam es zur Gründung des Center for Dance Education sowie dessen Akkreditierung durch die National Association of Schools of Dance inkl. der Eröffnung von Zweigstellen in Buckhead und Cobb County (letztere wurde 2017 nach Virginia-Highland verlegt). 1999 präsentierte sich das Ensemble mit seiner choreographischen Fassung von „Peter Pan“ auch erstmals in London.
2010 erhielt und bezog die Kompanie in Form des Michael C. Carlos Dance Center seinen neuen Hauptsitz in West Midtown von Atlanta.
Eine China-Tournee (2013) und die 2015 erfolgte Premiere des ersten abendfüllenden Balletts „Camino Real“ von Helen Pickett (zu dieser Zeit Choreographer-in-residence beim Atlanta Ballet) in Kooperation mit dem Komponisten Peter Salem setzten Schlussakzente der Direktionszeit von McFall, der sich 2016 von dieser Position zurückzog.
Gennadi Nedvigin
Als nunmehr vierter künstlerischer Leiter in der über 90 jährigen Geschichte des Ensembles steht mit Gennadi Nedvigin eine Persönlichkeit an der Spitze, welche die europäische und amerikanische Balletttradition untrennbar miteinander verknüpft.
Erica Alvarado und Miguel Montoya proben mit Gennadi Nedvigin © Kim KenneyIn Rostow (Russland) geboren, begann er seine Ballettausbildung im Alter von fünf Jahren und setzte diese ab seinem zehnten Lebensjahr in Moskau an der Schule des Bolschoi Balletts fort. Unmittelbar im Anschluss wurde er ebendort beim Renaissance Ballett als Solist engagiert, ehe er zum Jeune Ballet de France nach Paris wechselte. Im Zuge einer Tournee in die USA wurde er 1997 eingeladen, sich dem San Francisco Ballet in der Position eines Solisten anzuschließen – ein Angebot, dem er in der darauffolgenden Saison folgte, drei Jahre später avancierte er zum Prinicipal dancer der Kompanie. Für seine Leistungen in San Francisco wurde er mit dem Erik Bruhn Preis (1999) und dreimal mit dem Isadora Duncan Dance Award (2001, 2010 und 2017) ausgezeichnet. Mit einer Gastvorstellung in Mexico beendete er 2016 seine tänzerische Laufbahn, dies markierte gleichzeitig seinen Wechsel in die Position des künstlerischen Direktors des Atlanta Ballet.
Das Ensemble
umfasste mit Stichtag Saisonende 2018/19 39 Tänzerinnen und Tänzer aus 13 Nationen, dazu kommt das Atlanta Ballet 2 mit 16 Mitgliedern und rund 1000 Elevinnen und Eleven im Center for Dance Education. Mit 44 Vorstellungen pro Jahr werden rund 83000 Ballettbegeisterte erreicht. Im Laufe seiner Geschichte verzeichnete das Ensemble zahlreiche bedeutende „Choreographer-in-residence“, gegenwärtig hat Claudia Schreier diese Position inne. Ihr frischer und dabei von der Neoklassik ausgehender Zugang setzt den „eternal spring“ bei der am längsten bestehenden Kompanie in den USA fort, die sich mit ihrem strategischen Plan bis zum Jahr 2024 ehrgeizige Ziele und auch hinsichtlich der digitalen Dokumentation ihrer Aktivitäten Qualitätsmaßstäbe setzt.
Oliver Graber