Meiri Maeda, Sujung Lim, Cohen Aitchison- Dugas, Leroy Mokgatle
Kritiken

„Nachtträume“ von Marcos Morau in Zürich

Alle Fotos: © Gregory Batardon
Foto Intro: Meiri Maeda, Sujung Lim, Cohen Aitchison- Dugas, Leroy Mokgatle 

Zur Eröffnung seiner letzten Saison in Zürich hat Christian Spuck den angesagten Choreografen Marcos Morau zu einem abendfüllenden Ballett verpflichtet. Der junge Spanier, bekannt geworden mit seiner Company „La Veronal“ in Barcelona, hat bereits zahlreiche Choreografie-Wettbewerbe und 2013 den Spanischen Nationalpreis gewonnen. Morau zeichnet sich, obschon von Haus aus kein Tänzer, durch einen eigenen kantigen und scharfen Bewegungsstil aus und besticht mit dem ganz großen Bild – einem „spectacle total“ wie einst bei Maurice Béjart.

Sänger/Schauspieler Ruben Drolle

„Nachtträume“ kreist vor allem um ein Thema: Macht. Machtgeilheit und Macht nicht als Mittel, sondern als Zweck. Moraus zentrale Inspirationsquelle ist so auch Kurt Jooss’ epochales Antikriegsstück „Der grüne Tisch“. Maskierte Politiker eröffnen und beschließen den „Totentanz in acht Bildern“, uraufgeführt 1932, gestikulieren, drohen, buckeln, profitieren – auf den Schlachtfeldern sterben sie nicht, das tut das Volk. Die berühmte, damals von Kurt Jooss getanzte, martialische Todesfigur fehlt bei Morau, dafür hat er die Macht an sich personifiziert. „Liebe mich“, spricht der/die Mächtige im sich erhebenden Orchestergraben sitzend. Bariton Ruben Drole, ein Urgestein des Ensembles, seit 17 Jahren singt er den „Papageno“, spielt bei seiner Ballettpremiere eine genderfluide Königin im schwarzen Paillettenkleid. Diven- und Diseusenhaft rezitiert Drole Caldéron, singt Schuberts „Nacht und Träume“, schreckt auch vor Playback und Tanz nicht zurück und verführt/kontrolliert sein Volk, seine 30 Schäfchen, die ganze Company und das Publikum dazu.

Das Bühnenbild von Max Glaenzel evoziert einen Ballsaal der Zwischenkriegszeit, wo man der harten Realität entflieht und sich dem Tanzrausch hingibt. Ein Kronleuchter und ein riesiger, runder, aber nicht grüner, Tisch dominieren die Szene, wie so oft von Martin Gebhardt ausgeleuchtet. Tänzer kriechen unter ihm hervor, springen auf ihn, disputieren mit blitzschnellen Gesten. Allianzen werden durch geschmeidiges und überraschendes Partnering geschmiedet, Konflikte ausgetragen, einige erhoben, andere erniedrigt – wie im Leben. Die weißen Handschuhe und Gamaschen bei Jooss werden raffiniert durch Sockenhalter und Kurzhaar-Perücken ersetzt, „the roaring twenties“ bleiben einfach ein Augenschmaus. Faszinierend, wie es der Kostümdesignerin Silvia Delagneau gelingt, eine schillernde Uniformität zu kreieren, dass man gar nicht mehr nach männlichen und weiblichen Tänzern unterscheidet, sondern sich von dem Ensemble, das Grossartiges leistet, mitreißen lässt. In einer grotesken Szene sind nur Businessmänner in Anzügen zu sehen – ohne Kopf, um einem die Dummheit und Verantwortungslosigkeit heutiger Politiker vor Augen zu führen.

Raffiniert, wie es Morau gelingt, die Masse physisch und visuell in Szene zu setzen, Machtverschiebungen mit Stühlen, der Drehbühne und einem sich darauf drehenden Flügel, auf dem Luigi Largo seelenruhig Rachmaninow und Ragtime spielt, darzustellen. Einige Tänzer*innen stechen aus der Masse heraus: Michelle Willems, Jan Casier, Luca D’Amato, nach drei Spielzeiten im Junior Ballett nun in der Hauptcompany, und vor allem der Neuzugang aus dem Ballet Béjart in Lausanne: Leroy Mokgatle. Der filigrane Tänzer aus Südafrika ist eine echte Bereicherung und ein wichtiger und richtiger Schritt des Opernhauses in Richtung Diversität und Genderfluidität.

Jan Casier, Leroy Mokgatle

Grell sind die Traumbilder, erschreckend und aufrüttelnd – denn die „Nachtträume“ von Unterdrückung und Kontrolle sind real und hochaktuell. Schrill und laut, aber rhythmisch komplex ist auch die Musik von Clara Aguilar. Der Komponistin und Sounddesignerin gelingt es, Schubert und Weill, Hollaender und die norwegische Rockband „Kaizers Orchestra“ in Einklang und die Tänzer*innen sogar zum Singen zu bringen, noch dazu auf Deutsch!

Denn am Schluss dieses großartigen und rebellischen Abends versinken sie, „Wie lange noch“ von Kurt Weill singend, im Orchestergraben. Wie lange noch kann das gut gehen mit der Macht um der Macht willen? Wenn der König träumt, er sei König, und mit dieser Täuschung lebt, wo er befiehlt, herrscht und regiert? Wenn alles im Leben nur Traum ist und die Träume Träume sind?

Auch wenn der „Zürichberg“, wo das Kapital hockt, im Parkett des Opernhauses von Marcos Morau eine Ohrfeige nach der anderen kassiert hat, hört der tosende Applaus nicht mehr auf. „Liebe mich“, schreit Ruben Drole als Drag-Queen auf dem Scheiterhaufen aus Stühlen, aber das Publikum liebt dich, Ballett Zürich!

Evelyn Klöti