"Die Unsichtbaren" © Kiran West
Kritiken

Das böse Spiel der Geschichte

Eine tanzhistorische Gesprächsrunde zu John Neumeiers Stück „Die Unsichtbaren“

Theater Baden-Baden, Szenen aus „Die Unsichtbaren“ © Kiran West

Als wäre er bereits auf dem Absprung aus der Hansestadt (was er natürlich nie sein wird), gründete der Hamburger Ballettchef im tiefen Süden der Republik ein neues Tanzfestival mit dem Titel „The World of John Neumeier“. In Baden-Baden gastiert er mit seiner Kompanie schon seit über 20 Jahren regelmäßig, seit das riesige Festspielhaus eröffnet wurde. Den Unterschied machen nun die diversen Zusatzprogramme und die neuen Spielstätten: Das hübsche kleine Kurtheater bietet Raum für intimere Produktionen, getanzt wird auch im Burda-Museum, dazu kommen Ausstellungen, Vorträge, Diskussionsrunden. Alles ist gut besucht, auch das Gespräch zu Neumeiers viel gelobtem Stück „Die Unsichtbaren“ über die Tanzkünstler der Nazi-Zeit, die wir vergessen haben, die verhaftet und verschleppt wurden, die starben, emigrierten, einfach verschwanden.

v.l.n.r. Patricia Stöckemann, Hedwig Müller, Susan Manning, John Neumeier, Susanne Linke und Ralf Stabel

Im Kristallsaal des LA8, eines Kulturzentrums an der Baden-Badener Kulturmeile Lichtentaler Allee, saßen dazu rings um Neumeier die Choreografin Susanne Linke, ab 1964 Schülerin von Mary Wigman in Berlin, sowie die Tanzforscherinnen Susan Manning, Autorin eines englischsprachigen Mary-Wigman-Buches, die Wigman-Biografin Hedwig Müller und die Kurt-Jooss-Biografin Patricia Stöckemann. Vor allem die beiden letzteren sind ausgewiesene, publikationsträchtige Spezialistinnen auf dem Gebiet des Ausdruckstanzes und der deutschen Tanzgeschichte des 20. Jahrhunderts. Moderiert wurde das Gespräch von Ralf Stabel, tanzhistorischer Mitarbeiter Neumeiers bei „Die Unsichtbaren“ und Autor zahlreicher Tanzbücher.

Warum Mary Wigman? Um sie geht es vor allem in „Die Unsichtbaren“, Stabel fragte die Runde zuerst nach der großen Leitfigur des deutschen Ausdruckstanzes. Die Bilder von ihren Auftritten seien es gewesen, die am Anfang ihrer Faszination standen, erzählten Müller und Stöckemann mit großer Begeisterung. Aber das sei alles nur „Flachware“, so Stöckemann, also Papier, Bilder und Texte: Die wirklich Herausforderung sei es, „ein Werk wieder lebendig zu machen“, die Bewegungen wieder zu sehen, so wie sie es mit der Rekonstruktion von Wigmans „Sacre du Printemps“ in Osnabrück initiiert hatte. Vom amerikanischen Standpunkt aus erklärte Manning, wie man den Modern Dance bei ihr zuhause für eine komplett amerikanische Erfindung hielt und sie voll Interesse gesehen hätte, dass es in Deutschland bereits Ähnliches gegeben hatte. Aber wie weit war Wigman wirklich in die Kultur der Nazis eingebunden, warum bezeichnete sie sich später selbst als „entartete Künstlerin“, das waren Mannings Fragen.

Susanne Linke sprach drei Worte und stand schon auf den Beinen, um das zu zeigen, was sie als junges Mädchen bei Wigman gelernt hatte: „Eine ganz andere Welt. Kein klassisches Ballett, sie hat es verachtet, gehasst!“, so Linke. Sie fand es ganz richtig, dass John Neumeier in seinem Stück nicht unbedingt die Originale der Tänze rekonstruiere, sondern die Bewegungen in seinem Stil nachempfindet: „Was Mary immer wünschte: dass man in der heutigen Zeit etwas macht, nicht die ollen Kamellen wieder vorholen!“ Neumeier erzählte, wie er zu dem Stoff kam (was man auch ausführlich auf der Webseite der Produktion nachlesen kann) und warum er daraus ein Stück für sein Bundesjugendballett machen wollte: Damit die jungen Menschen verstehen, welche Freiheit sie doch heute genießen. Bei aller Faszination sei auch ihm völlig klar, welch kontroverse Figur Wigman in der deutschen Tanzgeschichte darstellt. Und von da an stand die Parallele zur heutigen Situation im Raum: „Kunst ist lang, die Politik ist kurz“, so Neumeier, und er könne sich gut vorstellen, dass Wigman einfach nur dieses Regime überleben wollte, um danach anders weiterzumachen. Er und Manning zogen Trumps Amtszeit in den USA als Vergleich heran, aber natürlich dachte jeder auch an die Künstler in Russland, die seit Februar vor dem gleichen Problem stehen: Bleiben oder gehen? Tanzkünstler wie Mary Wigman und Rudolf von Laban stehen exemplarisch für die Rolle des Künstlers in einer Diktatur, was sicher auch die lange Gerichtsszene in „Die Unsichtbaren“ rechtfertigt, die wichtige Argumente gegenüberstellt.

Hedwig Müller fasste „das böse Spiel der Geschichte“ zusammen, dass der deutsche Ausdruckstanz „weitgehend durch die Emigration“ in die weite Welt hinauskam, dass er in einigen Zentren oder Ländern auch blühte und Traditionen gründete, etwa in Südamerika – dass aber in Deutschland nach dem Krieg nur noch wenige Zuschauer etwas davon wissen wollten. Im entnazifizierten, zweigeteilten Land wurde nicht etwa die Rolle Wigmans oder von Labans kritisch hinterfragt – „Sie hat nie aus der Zeit erzählt“, erklärte Susanne Linke, und Wigmans Schülerinnern hätten ihr damals keine Fragen gestellt. Nein, es bestand einfach kein Interesse mehr. Ralf Stabel zitierte die Kritikerlegende Klaus Geitel mit den Worten, dass Deutschland damals „von vier Ballettnationen besetzt wurde“ und deshalb nach dem Krieg das klassische Ballett blühte – was eigentlich auch nicht stimmt, der Tanz war einfach vollkommen untergegangen im Nazi-Reich. Auch nach dem Krieg war die Oper die deutsche Kunst, der Tanz ein Anhängsel für die Einlagen und die Operetten, erst seit den 1960er Jahren blühte das Ballett in den großen Staatstheatern wirklich auf. Neumeier dachte darüber nach, ob nicht vielleicht ein stilistischer Neubeginn gewollt war und wies darauf hin, dass John Crankos letzte Uraufführung „Spuren“ 1973 das erste Ballett in Deutschland war, das sich mit den Nazis auseinandersetzte. In der Nachfolge der Ausdruckskünstler standen die zwar die Essener Folkwang-Schule und Pina Bausch, aber „es war nicht dasselbe“, so Hedwig Müller. Erst ab 1968 wurde intensiver über die Rolle der Tanzkünstler im Nazi-Regime gesprochen, als die Hippies kamen, als in Deutschland die Jungen gegen ihre Vätergeneration aufbegehrten, die nach dem Krieg einfach weitergemacht hatte. Einen wichtigen Anstoß dazu gab übrigens der Kritiker Horst Koegler mit einer Reihe von Artikel in den 1970er Jahren.

Susan Manning, John Neumeier, Susanne Linke und Ralf Stabel

Vielleicht hätten sich Neumeier und Ralf Stabel in „Die Unsichtbaren“ nicht ganz so stark auf Wigman konzentrieren müssen, vielleicht hätte man viel mehr über jemand wie Kurt Jooss sagen (und tanzen) müssen, der während der gesamten Nazi-Zeit im Exil war und erst danach wieder zurückkehrte. Oder mehr über Jean Weidt, mehr über Alexander von Swaine, die so viel unsichtbarer blieben als Wigman. Wichtig ist einfach, dass überhaupt in Form eines Bühnenstücks an die vielen Namen erinnert wird und die inzwischen beachtlich vorhandene Forschung für ein breites Publikum aufarbeitet wird, das nun hoffentlich zahlreich darüber nachliest. Vielleicht hätte man auch jemand von den „Hardcore-Wissenschaftlern“ zur Diskussion einladen sollen, von denen Neumeier laut eigener Aussage gewarnt wurde, Wigmans Stücke zu rekonstruieren; vielleicht hätten die Meinungen einer Marion Kant oder einer Laure Guilbert mit ihren harten Vorwürfen gegen Wigman, Rudolf von Laban oder Gret Palucca den Fokus stärker auf die wirklich „Unsichtbaren“ gelenkt.

Neumeier bedankte sich zum Schluss bei all den Forschern und Tanzwissenschaftlern, auf deren Büchern sein Stück beruht und fand, selbst in diesem Fall ein genialer Dramaturg, für diese harmonische, durch viele persönliche Anekdoten auch lustige Gesprächsrunde ein dramatisches Finale, das manche im Publikum zu Tränen rührte. Und er las ganz aktuell den flehenden Brief eines Tänzers vom Mikhailovsky-Ballett vor, der unbedingt aus Russland raus will und eine Stelle sucht. „Unter einer Diktatur zu leben, führt zu Ratlosigkeit“, so Neumeier. Die russischen Tänzer (denn wichtige Choreografen gibt es dort keine mehr) stehen in einem ähnlichen Dilemma wie die deutschen Ausdruckstänzer damals: Kompromisse machen, um weiter Kunst machen zu können, oder ins Ungewisse gehen und von vorne anfangen?

Später am Abend gab es dann eine von drei Aufführungen der „Unsichtbaren“, die bei aller Bewunderung für den Faktenreichtum, die Assoziationen, die Spiegelung durch die heutige Jugend manche Frage entstehen ließ: Warum so viel angloamerikanische Musik? Haben nicht Brecht, Weill, Eisler genügend Anti-Kriegs-Lieder geschrieben, die genau wie Bob Dylans Text alle Kriege anklagen? Was macht ein Queen-Song in diesem Stück, und warum mutiert die textlich so dunkle „Bohemian Rhapsody“ zur fröhlichen Feier des Lebens? Mag der Song auch genau zum Zeitpunkt von Wigmans Tod entstanden sein, Queen und Dylan sind schon lange nicht mehr die Musik der jungen BJB-Generation, eher die Musik des jung gebliebenen Choreografen-Adels. Und warum sieht man um Himmels Willen immer wieder Spitzenschuhe an den Füßen der Tänzerinnen, wenn Wigman und ihre Zeitgenossinnen sie derart hassten? Das wirkt, wenn man es falsch interpretieren möchte, fast so, als hätte das Ballett doch gewonnen…

Angela Reinhardt