Von Horst VOLLMER
Trotz einer Handlung in Moll ist „La Sylphide“ ein leichtfüßiges und kurzweiliges Ballett – und macht es dem Zuschauer doch schwer: Wer nicht selbst Luftgeist ist oder zumindest Schotte, fremdelt mit der Geschichte. Sie ist Tanz gewordene Weltflucht. Bezüge zum Heute? Eher nicht.
Die Geschichte des Schotten James, dem eine Sylphide, die in ihn vernarrt ist, ausgerechnet am Hochzeitstag so sehr die Sinne vernebelt, dass James die Braut davonläuft, und dass die Sylphide in einen von Hexenhand vergifteten Schal gehüllt ihr ätherisches Leben aushauchen muss – diese Geschichte ist gar arg der Zeit ihrer Entstehung verhaftet. Anders als ihren jüngeren Geschwistern „Giselle“ und „Schwanensee“ fehlt „La Sylphide“ ein emotionaler Kern, der uns heute noch unmittelbar anzusprechen vermag. Doch mittelbar, wenn wir uns die zweieinhalbstündige Weltflucht der „Sylphide“ gestatten, uns den Geist der Zeit, die Gefühlswelten der Romantik in Erinnerung rufen: Welch‘ hübsch bittersüße Geschichte wird da erzählt, in welch‘ reizendem, elegantem Stil!
Wer hierzulande „La Sylphide“ schon einmal gesehen hat, hat meist August Bournonvilles Fassung von 1836 gesehen. Von Kopenhagen aus, wo sie bis heute zum identitätsstiftenden Repertoire des Königlich Dänischen Balletts gehört, hat sie die Welt erobert. Das Bayerische Staatsballett in München reist nun aber vier Jahre weiter zurück, zu Bournonvilles Vorbild: Als erst drittes Ensemble im deutschsprachigen Raum (nach Hamburg 2008 und Wien 2012) ist in München Pierre Lacottes Annäherung an Filippo Taglionis Urfassung der „Sylphide“ von 1832 zu sehen. Die Reise in eine Zeit, als der Tanz naiv, zart und eskapistisch in „andere“ Sphären entführte, belohnt mit stilistischen Kostbarkeiten und wunderbar altmodischen Theatereffekten.
Lacottes Neuschöpfung der historischen „Sylphide“ hat einen besonderen Platz in der Tanzgeschichte nicht nur Frankreichs, aber dort vor allem. Lacotte schuf seine Rekonstruktion 1971 für das französische Fernsehen (man findet die Verfilmung heute bei Youtube). Am Neujahrstag 1972 ausgestrahlt, folgte ihr eine Bühnenproduktion beim Ballett der Pariser Oper, der Herzkammer des französischen klassischen Tanzes, noch im selben Jahr. Dort lag damals die Ära Lifar mehr als ein Jahrzehnt zurück und die Ära Nurejew noch mehr als ein Jahrzehnt in der Zukunft. Direktoren und Direktorinnen wechselten rasch. Die Ballettwelt, westlicher Teil, ruhte zwar noch in sich, ahnte allenfalls die stilistischen und sonstigen Umbrüche, die Tanztheater, moderner und postmoderner Tanz bringen sollten – aber Paris war aus ihrem Fokus gerückt. Ästhetisch richtete man sich am tänzerischen Neoklassizismus à la New York aus, feierte Crankos englische Ballettdramatik in Stuttgart und war verunsichert durch die Virtuosität und Effizienz der im Westen zunehmend dominanter werdenden russisch-sowjetrussischen Schule des klassischen Tanzes. Paris suchte nach neuer Orientierung, nach Selbstvergewisserung und Schärfung des eigenen Profils. Man fand sie (auch) in der Rückbesinnung auf eigene Wurzeln.
Fotos: „La Sylphide“, Bayerisches Staatsballett, Ch.Pierre Lacotte nach Filippo Taglioni © Katja Lotter
Jakob Feyferlik in „La Sylphide“, Ch.Pierre Lacotte nach Filippo Taglioni © Katja Lotter
„La Sylphide“ wurde der Ausgangspunkt für Lacottes lange Reihe an Wiederbelebungen alter Ballette. Obschon die Ergebnisse seiner Recherchen manchen als streitbar galten, machte „La Sylphide“ ihn doch zum ersten Großmeister der historisch informierten Rekonstruktion im Ballett. Sie ergänzt heute die Praxis bloßer Überlieferung von einer Tänzergeneration zur nächsten und beschert uns die Chance, Verlorenes wieder zu erleben – oder doch wenigstens eine Annäherung daran. Paris und Frankreich aber bescherte Lacottes „La Sylphide“ wenn nicht das Wiedererleben des Originals Taglionis, so doch die Begegnung mit einer dem Original verpflichteten Nachschöpfung und, durch sie, mit jenen Wurzeln der eigenen Tanztradition, die in den Bild-, Erzähl- und Klangwelten der Romantik ankern.
München zeigt nun eine Eins-zu-eins-Übernahme der Pariser „La Sylphide“, einstudiert durch Lacottes ehemalige Assistentin Anne Salmon und Münchens Paris-geschulten Ballettdirektor Laurent Hilaire. Die Bühnenbilder – eine hohe Halle im Inneren eines Bauerngehöfts, dann eine Felsenhöhle und eine Waldszene – folgen dem Vorbild von 1832, ebenso die schottisch karierten Kostüme der Sippen von Braut und Bräutigam und, natürlich, die langen, luftigen Tutus der Sylphiden samt Mieder und Flügelchen, die einst Epoche machen und für lange Zeit die allgemeine Vorstellung von „Ballett“ prägen sollten. Die Musik schließlich (es spielt das Bayerische Staatsorchester unter Myron Romanul, der auch das Orchestermaterial für München erstellt hat) orientiert sich an der Ur-Partitur des Elsässers Jean-Madeleine Schneitzhoeffer. Weniger „schottisch“ gefärbt als Løvenskjolds Kopenhagener Nachkomposition, bildet sie umso stimmiger das musikalisch-romantische Paris der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ab.
Ensemble Bayerisches Staatsballett © Katja Lotter
Ob Pierre Lacotte, ob Millicent Hodson und Kenneth Archer, die in den 1980ern etwa Nijinskys „Sacre“ wiederbelebten, ob heute Alexei Ratmansky, wenn er historische Aufführungspraktiken adaptiert: Wer verlorene Tanzwerke zu retten antritt, benötigt nicht Expertise allein, sondern auch Mut – den Mut, Lücken zu füllen, die selbst umfangreiche Zeitdokumente hinterlassen, wenn sie aus der Zeit vor Labanotation und Benesh, vor Film und Video stammen. Lacotte, überzeugt, dass auch Taglioni so verfuhr, stellt in „La Sylphide“ nicht nur die Luftgeister auf Spitze, sondern auch die Schottinnen des ersten Akts (anders als Bournonville, der durch Spitzenschuhe nur für die Sylphiden deren irreale, luftige Sphäre von der realen, erdverbundenen der Schottinnen und Schotten trennte). Er fügt in das Divertissement des ersten Akts ein schottisches Solistenpaar ein und nutzt für den (bestrickend schönen) Pas de trois von James, seiner Braut Effie und der – nur für James sichtbaren – Sylphide eine musikalische Ergänzung von Ludwig Wilhelm Maurer für Filippo Taglionis Ballett „L’Ombre“ von 1839. Dass Lacotte andere Stellen scheinbar weniger beherzt „für heute“ inszenierte, mag an Sehgewohnheiten liegen, die sich seit der Premiere 1972 geändert haben: Gleich mehrmals im ersten Akt „hakt“ der Fluss der Inszenierung, stoppt für einen pantomimischen Dialog ohne Musik oder einen – durch die Stille umso länger erscheinenden – Gang der Solisten zum Ausgangspunkt ihrer folgenden Variation.
Nichts davon jedoch schmälert den Wert der Produktion, schon gar nicht deren Schauwert. Die rustikalen „schottischen“ Ensembles sind ansprechend und vielgestaltig. Die Nebenrollen – die brave Effie, deren Verehrer Gurn, die gestenreich auftrumpfende Hexe Madge – sind klar gezeichnet, und James hat in Lacottes Fassung eine umfangreichere, technisch und darstellerisch forderndere Rolle als wohl bei Taglioni. Und die Sylphiden? Sie allein schon lohnen den Besuch der Münchner Aufführung! Sie erwecken die Sylphiden-Grafiken aus Taglionis Zeit zu so reizvoll plastischem Leben, dass das Nationaltheater schon bald vom betörenden Duft des Parfums einer vergangenen Ballettepoche erfüllt zu sein scheint.
Madison Young, Jinhao Zahng und Elvina Ibraimova © Katja Lotter
Die eine namenlose Sylphide des Titels, zuerst von Marie Taglioni verkörpert, etabliert im schottisch-bäuerischen ersten Akt allein den charakteristischen eigenen Bewegungsstil der Luftgeister, der dann in Gestalt eines großen Sylphiden-Corps und ihres „weißen“ Divertissements die Waldszene des zweiten Aktes flutet. Der anmutig vorgebeugte Oberkörper, die geneigte Kopfhaltung und der unterm Kinn verweilende Fingerfächer, die kleinteilige Fußarbeit bei wenigen Sprüngen und Drehungen, aber vielen Arabesken, der unablässige Einsatz der Spitze, der rasche Wechsel vielfältiger Formationen und Raummuster: Was die Zeit zu Kitsch degradiert hat, bringen die Damen des Bayerischen Staatsballetts so harmonisch, duftig und selbstverständlich zur Aufführung, wie es der historisch authentische Anspruch der Inszenierung erfordert. Es ist eine Seh-Lust erster Güte, kostbar und selten auf unseren Bühnen.
Vier alternierende Besetzungen bietet das Bayerische Staatsballett in der ersten Aufführungsserie. Die zweite und dritte, in allen Rollen stark, offenbarte Unterschiede allenfalls in Nuancen: Jeweils höchst delikat die Gestaltung der Titel-„Sylphide“ durch Madison Young und Laurretta Summerscales, eher zurückgenommen der James Jinhao Zhangs verglichen mit dem Julian MacKays, eher schüchtern die Effie Elvina Ibraimovas verglichen mit der Margarita Fernandes‘, derb die Madge von Alexey Dobikov und Sergio Navarro, und Gurn, der am Ende mit Effie zum Altar geht, ist bei Florian Ulrich Sollfrank und Severin Brunhuber zum Luftikus James der solide bodenständige Gegenpart.
Madison Young und Jinhao Zahng © Katja Lotter
Eine historisch ausgerichtete „Sylphide“-Produktion wird freilich erst komplett durch die dazugehörenden Bühneneffekte. Lacotte inszeniert nicht alle, die den Beschreibungen der Uraufführung zu entnehmen sind, aber alle wesentlichen – und deren Charme ist hinreißend. Wenn die Sylphide durch den Kamin ent- und hinter einem Plaid verschwindet, wenn sie von einem Fenstersims herunter- und mit ihren Kolleginnen auf Rollwagen oder an Seilzügen entschwebt, wenn sie im ersten Akt in einer plötzlich durchscheinenden Wand sichtbar wird und im zweiten Sylphiden im Geäst der Bäume erscheinen – dann ist das nicht nur entzückend anzusehen. Es wird dann auch ein ums andere Mal sicht- und erlebbar, wie in einer Zeit, als Theater von Hand gemacht wurde, die Kunst traditioneller Theaterhandwerker Illusionen schuf. Sie alle sind, wie die gesamte Produktion: Bezaubernd sehenswert.
Bayerisches Staatsballett: „La Sylphide“, Choreographie von Pierre Lacotte (1971/72) nach Filippo Taglioni (1832). Premiere am 22. November 2024, Nationaltheater München. Gesehene Vorstellungen: 23./24. November 2024.