Von Horst Vollmer
Erste Spielzeit, zweite Premiere: Demis Volpi geht seinen Weg als Nachfolger eines überlebensgroßen Vorgängers weiter und setzt mehr Zeichen der Veränderung – mit einem zweistündigen Doppelprogramm aus einer Uraufführung von Aszure Barton und einer Übernahme aus Mailand von William Forsythe. Der Abend beginnt mit choreografischem Leerlauf und wolkiger Programmheftlyrik – und endet erstklassig.
„Slow Burn“ heißen das Programm und das für Hamburg geschaffene Werk Aszure Bartons. Barton wurde in Kanada geboren, vor allem in Toronto ausgebildet, auch in Stuttgart. Ihre Bühne ist die Welt: Die Liste der Kompanien zwischen Nordamerika, Europa und Australien, für die sie seit 30 Jahren choreografiert, ist lang und beeindruckend. Ihr musikalischer Partner ist diesmal Ambrose Akinmusire, Jazztrompeter, Bandleader und Komponist. Streicher und Blasinstrumente dominieren sein verhaltenes, knapp einstündiges Werk, aus dessen emotional grundierten Klangflächen gelegentlich zaghafte, allmählich anschwellende Spitzen herausragen: „Slow Burn“ bezeichnet eine langsame Entwicklung und Steigerung.
Die Farben des Stücks sind Schwarz für die Bühne und, in vielfachen Abstufungen, Orange für die Kostüme, die für Damen und Herren identisch sind: weit geschnittene Overalls, appliziert mit Riesenblüten oder Stufenröcken. Man tanzt auf flacher Sohle, es gibt je drei Solistinnen und Solisten, Hauptakteur ist jedoch die 20-köpfige Gruppe. Es beginnt am Boden, kriechend, ist auch später, auf die Füße gestellt, stets erdverbunden, und kehrt immer wieder auf den Boden zurück: es wird gerobbt und gerollt, auf-, über- und nebeneinander, in Reihe sitzend wird gewunken oder man spielt „Welle“, und aus Landschaften liegender Körper erheben sich einzelne Soli, Duette, kleine Ensembles.
Aszure Bartons “Slow Burn“, Artem Prokopchuk und Ensembledes Hamburg Ballett © Kiran West
Das Problem des Werks ist nicht seine musikalische, seine atmosphärische oder seine – trotz der häufig modulierten Formationen – choreographische Eintönigkeit. „Slow Burn“ ist zwar zu lang, zu beliebig und harmlos, doch es ist nett anzusehen, ist das Gegenteil einer Zumutung und bietet den (großartigen) Tänzerinnen und Tänzern die Möglichkeit, sich anders zu präsentieren als es das Hamburger Publikum gewohnt ist. Das Problem des Werks ist vielmehr seine Idee und dessen (ausbleibende) Umsetzung. Was Barton in „Slow Burn“ langsam aufzukochen meint, sind über einen langen Zeitraum wachsende, tiefe Gefühle. Die Inspiration zu ihrem Stück schöpft sie aus ihrer Bewunderung älterer Frauen, die das Leben weise gemacht hat.
Doch so schön das Thema – Barton scheitert daran, und nicht nur halb. Was sie sich als Gegenstand ihres Stücks erwählt hat und in Programmhefttexten (Stückdramaturgie: Carmen Kovacs) wolkig er-, besser: verklärt wird – nichts davon macht die Choreografie sichtbar. Hat jemals jemand untersucht, wie viele Theaterbesucher Programmhefte lesen? Wer’s in diesem Fall nicht tut, sieht jedenfalls nicht, was das Stück zu zeigen beabsichtigt – und allen anderen ergeht es ebenso.
Silvia Azzoni, Madoka Sugai, Kohana Williams in „Slow Burn“, Ch. Aszure Barton © Kiran West
“Slow Burn“, Ch. Aszure Barton, Silvia Azzoni, Madoka Sugai, Ensemble © Kiran West
Zwar vergibt Barton charakterisierende Rollenbezeichnungen: Silvia Azzoni und Madoka Sugai sind „Weise Frauen“, Lormaigne Bockmühl stellt „Freude“ dar, Daniele Bonelli „Empathie“ und Evan L’Hirondelle und Artem Prokopchuk sind „Die Verbündeten“ (man vermutet: der weisen Frauen). Es ist jedoch allein der Besetzungszettel, der den narrativen Gehalt dieser Parts vermittelt, nicht die Choreografie. In keinem Moment gelingt es Barton, auf einer Ebene „hinter“ und „zwischen“ dem bloßen Miteinander-Tanzen Beziehungen, Emotionen, Zwischenmenschliches sichtbar zu machen. Das wird beispielhaft und geradezu schmerzhaft deutlich an Silvia Azzoni: 51 Jahre alt, reifer und reicher an Tanz- und Lebenserfahrung als alle anderen auf der Bühne, setzt Barton sie dennoch genau wie alle anderen auf der Bühne ein als wär’s eine Übung in „Ich kann noch mithalten“ (was Azzoni kann) – und dabei wäre Azzoni doch prädestiniert, durch Ausstrahlung, Bewegung und Ausdruck anderes, „älteres“ und weiseres als die anderen zu erzählen und damit einen Spannungsbogen herzustellen, der das Thema des Stücks transportieren könnte. Dass Barton das nicht sieht, zumal nicht gestaltet: Eine vertane Chance.
Nicht in Programmhefttexten ist die Wahrheit eines Bühnenwerkes zu finden, sondern auf der Bühne: Das zeigt nach dem choreografischen Leerlauf von „Slow Burn“ der zweite Teil des Abends. William Forsythes „Blake Works V (The Barre Project)“ kam im Mai 2023 an der Mailänder Scala zur Uraufführung, wie die anderen „Blake“-Arbeiten zu einer Auswahl der ungewöhnlichen, zwischen Melancholie und Clubatmosphäre hin- und herpendelnden Songs und Musikstücke von James Blake. Die Choreografie ist ein Paradestück für zehn Herren und fünf Damen: So neoklassisch wie Forsythes beste Arbeiten, frei aller Experimente zu Bühnenraum und -zeit, allein aus Bewegung bestehend, reduziert und zugleich überwältigend vielgestaltig in den zahllosen Variationen in Arm- und Beinführung, in der Verschiebung des Torsos, des Beckens, der Hüften. Es ist eine Feier des Kanons der Danse d’école – freilich gebrochen im Licht des 21. Jahrhunderts – und der Schönheit und Würde des (tanzenden) Menschen, wie sie der DNA des klassischen Tanzes eingeschrieben sind.
Charlotte Larzelere in „Blake Works V“, Ch. William Forsythe The Barre Project © Kiran West
Der Ursprung der „Blake“-Stücke Forsythes in der Zeit der Corona-Pandemie, als Küchen und Wohnzimmer zu Tanzstudios wurden und das Internet sie zu einem virtuellen Probenraum verband, ist dem Stück eingebrannt: Es beginnt an einer Stange, die zwischen den zwei Teilen eines bis auf einen Spalt zugezogenen Rückvorhangs sichtbar ist – ein Bild gewissermaßen im vertikalen Smartphone-Format. Einmal bildet ein Film – eine Stange, Hände – den Übergang zur nächsten Sequenz. Und weit überwiegend sind es Soli, aus denen das Werk besteht. Zwar ereignen sie sich mitunter gleichzeitig nebeneinander, korrespondieren gelegentlich miteinander oder sind auch schon einmal auf sich ablösende Solisten verteilt. Meist jedoch stehen sie für sich allein, eines nach dem anderen, allein im weiten Schwarz der Bühne. Jedes ereignet sich wie unter Hochdruck: rasend schnell (selbst die vielen Drehungen, alle – man muss zweimal hinsehen, um es zu glauben – auf Halbspitze), scharfkantig, in Sekundenschnelle auf den Punkt gebracht – und schon kommt der, die nächste aus der Gasse für das nächste Solo.
Francesco Cortese, Alexandre Riabko in „Blake Works V“, Ch. William Forsythe The Barre Project © Kiran West
Anna Laudere und Matias Oberlin in „Blake Works V“, Ch. William Forsythe The Barre Project © Kiran West
Ungewöhnlich für Forsythe: Im ersten Teil zeigen Anna Laudere und Matias Oberlin eines der wenigen Nicht-Soli, das einzige, in dem die Tänzer eine Beziehung zueinander darstellen, und haben darin zwei berührend emotionale Momente, augenblickskurz aufscheinend aus vermeintlich purer Bewegung – als verbeugte sich Forsythe vor Hans van Manen. Sie blicken sich an, nicht nur von Tänzerin zu Tänzer, sondern von Mensch zu Mensch, und finden sich kurz darauf in einer Pose wieder, die eine nicht nur körperliche Verbindung herstellt: sie mit einer Hand auf seiner Brust, wobei beide, sich anblickend, er sie mit geneigtem Kopf, langsam zur Seite abgehen. Was der erste Teil des Abends nur behauptete – hier ereignet es sich, völlig unerwartet in einem „Forsythe“: Tanz, der „hinter“ und „zwischen“ den Bewegungen eine weitere Ebene entstehen lässt, ein Mehr, das über den reinen Tanz hinausweist.