Sharon Eyal "The Look" Foto: Ascaf
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Leserbrief zu „Die Schweiz schafft das Ballett ab, Künstlerische Fehlreaktion“, von Angela Reinhardt

Dance for you, Weihnachtsausgabe  Nr. 107, Dezember 2022, S. 6
Leserbrief von Cornelia Stilling- Andreoli

John Cranko hat „Der Widerspenstigen Zähmung“ vor über dreissig Jahren geschaffen, die Zeit war eine ganz andere als die heutige. Cranko hätte gesagt „ Zähmung? Raus damit, wir müssen etwas Neues machen“. Cranko hat Shakespeare verstanden, er hat ihn gelesen. Es war damals lustig, aber heute ist es längst nicht mehr so lustig. Aber ich war auch nicht die erste komische Tänzerin. Es gab vor mir andere, so Léonide Massine, der in der Komödie sehr stark war….“
Márcia Haydée im Gespräch mit St.-A. Mai 2003

Es nimmt nicht wunder, dass das klassische Ballett in der Schweiz – und nicht nur dort – „zurückgefahren“ wird und die Subventionsgelder dort nicht mehr grosszügig gewährt werden wie einst. Die Vorwürfe sexuellen Missbrauchs sind das eine, das andere ist die Frage der Erneuerungsfähigkeit des klassischen Balletts, insbesondere der alten Ballettklassiker und – romantiker, aber auch der Handlungsballette oder Literaturballette.
Die goldenen Zeiten der alten Klassiker mit Fonteyn und Nureyev in den frühen Sechzigern oder etwa auch der einstigen Bolschoi- Ballerina Natalia Bessmertnova in den frühen Achtzigern sind im Gedächtnis von Liebhabern des klassischen Balletts verankert; sie lassen sich nicht zurückholen.
Ohnehin schon bei Vielen unter Kitschverdacht stehend, hat es das klassische Ballett im Gegensatz zur Klassischen Musik heute oft schwer, sich zu behaupten. Es wirkt meist nicht mehr stimmig und altbacken, und es bedarf einer perfekten Beherrschung der klassischen Tanztechnik, über die etwa der britische Tänzer Xander Parish verfügt, um dem choreografischen Regelwerk aufs Neue die Transparenz zu verschaffen, die es braucht. Die alten Klassiker wie Schwanensee oder Dornröschen sind eine Einladung zur Projektion von Fantasien, die heute nicht mehr tragfähig, nicht mehr verheissungsvoll sind.
Der amerikanische Choreograf William Forsythe hat in den frühen Achtzigerjahren die üblichen Vorstellungen von Stabilität umgekehrt und hinterfragt, was Tanz überhaupt ist, ein entscheidender Faktor, wenn es um Nachhaltigkeit geht. Auch die moderne Choreografin Sharon Eyal deutet in ihren Stücken zukunftsweisende Leerstellen an, die ein imaginiertes Zentrum bilden und zeigt damit das Gegenteil dessen, was gemeinhin unter Ballett verstanden wird. Ihre industriell anmutenden Körperformen sind eher untypisch für Tanz. Das alte klassische Ballett kann da nur schwer mit der Avantgarde des Tanzes mithalten. Das klassische Ballett muss sich radikal erneuern, anderenfalls ist es auf dem besten Weg, sich zu delegitimieren.