Julia Boies Studie „Kommunikation im Tanzsport“
Dass die Effektivität des Trainings durch „wiederkehrende Konflikte“ und „Partnerschaftsproblematik“ stark beeinträchtigt wird, wie es in der Einleitung von Julias Bowies wissenschaftlicher Studie „Kommunikation im Sport“ heißt, ist jedem klar, der selbst einmal in einem Tanzclub auf dem Parkett stand.
Man ist sogar versucht, das für eine Untertreibung zu halten. Denn der Eindruck, dass manche Paare nur zum Streiten auf die Fläche gehen, drängt sich bis hin zu Tätlichkeiten auf. Im günstigsten Fall nimmt die Dame ein Taxi, um 60 Kilometer nach Hause zu fahren, weil sie mit ihrem Partner nicht mehr zusammen in ein Auto steigen will. Im ungünstigen Fall fällt der Watschenbaum um (passiert ihm wie ihr) oder die Dame zieht ihrem Partner wutentbrannt die metallene Kratzbürste für die Schuhe durchs Gesicht.
Wer da danken sollte, dass das nur auf unterer Leistungsebene passiert, hat sich getäuscht. Sogar vielfache Weltmeister wie Markus und Karen Hilton sind nicht gefeit. In Blackpool wurde gesichtet, wie die beiden überirdisch übers Parkett schwebten, aber hinter den Kulissen Karen ihren Schuh nach dem Partner schleuderte, der sich gerade noch rechtzeitig wegducken konnte. Was war passiert? Von der Musik irgendwie inspiriert kam es ihm in den Sinn, eine Figurenabfolge zu tanzen, die die beiden seit fünf Jahren nicht mehr auf dem Programm hatten…
Rücksichtslosigkeit gegenüber dem Partner ist an der Tagesordnung. Und dass Trainer dem entgegenwirken können, ist oft nur ein Wunschtraum. Denn was sie da sagen, sind reine Lippenbekenntnisse ohne praktischen Wert. Wenn man etwa selbst miterlebt hat, dass der Trainer zu seiner Aktivenzeit seine Tanzpartnerin eine Stunde lang ständig leise beschimpfte und zur Schnecke machte, bis sie dann genug hatte und zu Kratzen und Beißen anfing – sind das die besten Voraussetzungen, um den Schülern hinterher einen guten Umgang miteinander beizubringen?! Vom langjährigen, inzwischen verstorbenen Bundestrainer ist bekannt, dass er seine Frau ohrfeigte, wenn er das Turnier nicht gewann. Und internationale Top-Trainer berichten, dass in Ostblockstaaten und in China auch die Trainer Prügel austeilen. Natürlich gibt es auch rühmliche Ausnahmen, den Lateintrainer beispielsweise der nach der Privatstunde der Dame nahelegt, es sich nicht gefallen zu lassen, dass ihr Partner sie nicht wie eine Person, sondern wie eine Sache – als Tanzsportgerät eben – behandelt. Aber so viel Feingefühl ist selten, zumindest in Deutschland. Denn das vom Landestanzsportverband vorgegebene Ziel eines energetischeren Tanzens hält davon ab, energetische Tätlichkeiten, entstanden durch unzureichende Technik, zu ahnden. Zumal sich die Trainer immer mehr darauf verlegen, den Paaren nicht Tanzen beizubringen, sondern nur wie sie in ihrer jeweiligen Startklasse überleben. Man muss schon nach England gehen, um einen Tanztrainer zu finden, der da die Notbremse zieht. Hierzulande sind Trainer eher geneigt, den Herren zur Seite zu nehmen und ihn daran zu erinnern, dass er die Dame wie einen Hund an der Leine herumschwenken soll.
In so einer verfahrenen Situation kommt da eine Anleitung zur Kommunikation gerade recht. Julia Boie hat sich mit ihrer „Konzeption und Evaluation eine Kommunikationstrainings auf Basis der Modelle Schulz von Thuns für den Tanzsport“ viel vorgenommen. Sie fokusiert vor allem die „Fähigkeit zur Aufrechterhaltung und Förderung der Motivation der Sportler/innen“ auf Seiten der Trainer und führt sportpsychologische Basisfertigkeiten auf Seiten der Tänzer ins Feld, die so Boie „auch für die Trainer/innen von großem Wert sein können“. Dazu gehören: „Beherrschung und Anwendung mentaler Fähigkeiten, die Regulation psychischer Energie, die Stressregulation, die Fähigkeit zur Aufmerksamkeitslenkung und Konzentration sowie eine effektive Zielsetzung“. Kurz: es geht um die Beherrschung interpersoneller Fähigkeiten. Umso mehr, als Tanz-Training in der Regel als freies Training stattfindet, also ohne Korrektur durch einen Trainer, und das Paar nur mit sich alleine klar kommen muss. Enrichment-Programme wie in der Paar-Therapie scheinen vielversprechend. So verfolgt Julia Boie nun ein psycho-edukatives Programm, das seinen Schwerpunkt auf Selbstreflexion und Verständnis legt und verschiedene interaktionspsychologische Theorien und Konzepte nebst praktischen Übungen darlegt.
Das 4-Seiten-Modell Schulz von Thuns bildet dabei die Grundlage. Denn die Nachricht, die der Sender an einen Empfänger richtet, hat immer ohne Ausnahme vier Komponenten. Da gibt es den Sachinhalt, der für sich frei von menschlichen Gefühlen ist, aber immer in einer Selbstkundgabe vermittelt wird. Hier kommt es auf die Stimmigkeit an, auf die Übereinstimmung innerer Verfassung und äußerer Situation. Natürlich passiert alles auf einer Beziehungsebene, auf der die Kompetenzen möglichst eine Gleichberechtigung der Partner erbringen sollte. Dann erfolgt ein Appell. Das alles positiv unter einen Hut zu bringen, ist das Ziel. Denn was hilft es, wenn ein scheinbar vernünftiger Appell eine inakzeptable Beziehungsbotschaft beinhaltet und Unabhängigkeit und Freiheit des Empfängers gefährdet.
Die Gefahr bei jeder Kommunikation liegt darin, dass der Empfänger in erster Linie seine Seite wahrnimmt. Das schafft Konflikte. Daher sollte jeder Empfänger erst einmal die Verantwortung auf die eigenen Reaktionen und Gefühle ohne Schuldzuweisung auf sich nehmen. Was not tut, ist Kommunikation über die Kommunikation, eine Meta-Kommunikation, die erst einmal die nichtsachlichen Aspekte klärt mit dem Ziel, die zwischenmenschliche Atmosphäre von Spannungen zu befreien. Gesprächsregeln helfen zudem. So sollte der Sprecher seine Gefühle über Ich-Botschaften mitteilen und sich auf konkrete Situationen beziehen. Vom aktiven Zuhörer wird Aufmerksamkeit eingefordert und die Fähigkeit, sich durch einen Perspektivewechsel emphatisch in sein Gegenüber einzufühlen, um es zu begreifen.
Boie zieht weiter das Persönlichkeitsmodell heran, in dem vier Grundformen der Angst eine Rolle spielen. Dabei geht es um die Gegensätze Nähe- und Distanz-Strebung sowie Dauer- und Wechsel-Strebung, die ein Koordinatenkreuz bilden, in dem sich jeder Mensch einfindet mit unterschiedlichen „Heimatgebieten“. Ihr Befund: „Für den zwischenmenschlichen Kontakt ist Akzeptanz und Wertschätzung der Unterschiede das zentrale Ziel und, damit verbunden, der Versuch, mit den Unterschieden umgehen zu lernen.“
Nun geht es an die Transaktionsanalyse und die drei Persönlichkeitsinstanzen: Eltern-Ich, Kindheits-Ich und Erwachsenen-Ich. Das erlaubt eine Feinanalyse der Beziehungsebenen, denn jedes Ich, das sich an ein anderes Ich wendet, ist von diesen drei Ich-Anteilen bestimmt. Neben parallelen Transaktionen, wo sich der eine Ich-Anteil an den selben Ich-Anteil beim Partner richtet, stehen komplementäre Transaktionen, die sich an einen anderen Ich-Anteil richten. Problematisch wird es, wenn sich die Linien bei der Antwort kreuzen. Solche Transaktionen sind der häufigste Anlass für emotionelle Missverständnisse, weil die Gesprächspartner nicht erwartungskonform agieren. Die Kommunikation wird durchbrochen. Sich solcher Vorgänge bewusst zu werden, ist bereits der Weg zur Besserung. Das heisst aber auch, dass eine Veränderung nur möglich ist, wenn jedes Individuum seinen eigenen Ich-Zustand verändert.
Die schlimmste Missverstehens-Variante ist der Teufelskreis. Die lineare Kausalität wird durch eine zirkuläre ersetzt und der Konflikt schaukelt sich hoch. Jeder fühlt sich im Recht und hält sein Verhalten für eine bloße Reaktion auf das Verhalten des anderen. Hier bieten sich zwei Möglichkeiten an. Zum einen die systematische Wahrnehmung von Interaktion. Dabei geht es darum, sich des eigenen Anteils am Geschehen bewusst zu werden und die emotionale Entrüstung gegenüber dem Interaktionspartner zu vermindern. Zum zweiten hilft die Meta-Kommunikation, also der Austausch über die Emotionen, die im Teufelskreis eine Rolle spielen. Weg zu kommen vom Vorwurf von Verhaltensweisen hin zur Offenlegung der Emotionen, die hinter dem Verhalten stehen, kann helfen, den Teufelskreis zu durchbrechen.
Eine wichtige Rolle im Kommunikationsprozess spielt natürlich die Wahrnehmung, die ob der komplexen Fülle von Eindrücken immer auch eine Interpretation des Einzelnen ist. Die momentane Befindlichkeit beeinflusst ebenso wie innere Einstellungen und Überzeugungen, wie wir Situationen und das Verhalten anderer interpretieren. Daher ist es möglich, dass unsere Gefühle zu einer Reaktion auf die Nachricht anderer führen, die mit diesem Gegenüber gar nichts zu tun haben. Natürlich beeinflusst auch die Beziehung zum Gesprächspartner die Reaktion. Da werden dann frühere Streitigkeiten miteinbezogen und Rückschlüsse auf die Motive des anderen konstruiert. Es empfiehlt sich also, die eigene Reaktion zu überprüfen und Mutmaßungen auszuschließen.
Kommunikations-erschwerend kommt dazu, dass der Einzelne psychologisch kein Einzelner ist, sondern ein "inneres Team" in sich vereint. Innere Reaktionen sind häufig nicht ganz klar, sondern vielfältig und widersprüchlich. Viele innere Stimmen melden sich, es kommt zu gemischten Gefühlen. Diese "inneren Teammitglieder" vereinen kognitive, emotionale und motivationale Anteile in sich. Es kommt nun darauf an, die Dynamik dieser einzelnen Teammitglieder zu eruieren und festzustellen, welche in die Interaktion im Kontakt zu anderen Menschen eingebracht werden. Selbstklärung ist also die Voraussetzung für eine klare Kommunikation.
Was bedeutet das, für das Tanzgeschehen? Es kommt darauf an, die Unterschiede zwischen den Partnern in ihren Bedürfnissen herauszufinden und einen für beide gangbaren Weg oder Kompromiss zu finden. Entspannungsübungen sind hilfreich, das Aufwärmen, ehe man gemeinsam aufs Parkett geht, unerlässlich. Gegenseitige Korrekturen im Paar sind problematisch und machen nur Sinn, wenn ein positiver Verbesserungsvorschlag gemacht wird, den der andere ohne Widerspruch umzusetzen versucht. Dabei haben beide Partner dieses Recht – zumindest fünf Minuten lang! Dann sollte fünf Minuten ohne Bemerkungen trainiert werden. Wer seinem Partner „hilft“, indem er beispielsweise mehr Rotation führt, weil er denkt, der andere macht zu wenig, vermindert die Qualität des eigenen Tanzens und produziert Stress auf Seiten des Partners. Das ist alles kontraproduktiv. Vernünftiger ist es, den Trainer die Fehlerquelle ausfindig machen zu lassen. Was helfen kann ist, eine strittige Figurenfolge mit vertauschten Rollen zu tanzen, um selbst zu fühlen, was vom anderen jeweils verlangt ist. Das Fazit von Julia Boies Studie: Um Tanzen nachhaltig zu verbessern ist es notwendig, Veränderungen auf der Beziehungsebene, der persönlichen Ebene und der sportlichen Eben zu initiieren. Die Förderung interpersoneller Kompetenzen ist von besonderer Wichtigkeit.
So weit der theoretische Teil. Julia Boie beschreibt nun explizit die Testergebnisse eines sich über zwei Wochenenden erstreckenden Seminars mit diversen Probanden vieler Alters- und Leistungsgruppen. Dazu zieht sie Fragebögen heran, die im Vorher-, Nachher- und Followup-Verfahren signifikante Aussagen zulassen über Fortschritte im kommunikativen und tanzsportlichen Bereich.
Auf jeden Fall bringt die Kenntnis dieser „Kommunikation im Sport“ eine Verbesserung. Die Paare lernen einander besser zu verstehen und Konflikte zu vermeiden oder leichter zu lösen. Das führt zugleich zu einer Leistungssteigerung. Zudem vermittelt Julia Boie gerade im theoretischen Eingangsteil ihrer Arbeit diese komplexen und komplizierten psychologischen Zusammenhänge in einer sehr klaren und auch für Nicht-Psychologen verständlichen Form. Dieses Buch sollte Pflichtlektüre für alle Tanztrainer werden, die durchaus einmal solche Erkenntnisse in ihrem Stunden behandeln sollten. Natürlich ist „Kommunikation im Sport“ ebenso jedem leistungsorientierten Tanzpaar zu empfehlen. Es könnte viel Leid ersparen und dazu beitragen, dass Tanzen wieder mehr Freude bereitet.
Julia Boie: Kommunikation im Sport
Konzeption und Evaluierung eines Kommunikationstrainigs auf Basis der Modelle Schulz von Thuns für den Tanzsport
Zugleich Dissertation, Technische Universität Braunschweig 2010
Verlag Dr. Kovac www.verlagdrkovac.de
348 S. 97 € ISBN 978-3-8300-5619-5
Autor: Ute Fischbach-Kirchgraber, Redaktion Ballroom
Vorbildliche Kommunikation im Tanzpaar: Simone Segatori und Anette Sudol (Kürtanz-Weltmeister der Amateure).
Foto: Thomas Kirchgraber