Das Cottbuser Ballett überwältigt in „Endstation Sehnsucht“ •
von Volkmar DRAEGER
Das Schlussbild erinnert an Davids Gemälde vom Tod des Revolutionärs Marat: Zum letzten Ton elegischer Streicher und in erlöschendem Licht hängen nur noch Kopf und Arme der Blanche DuBois aus der Wanne hinten in einem trist grauen Zimmer. Dort, in Thomas Mikas atmosphärischem Bühnenbild, ereignet sich, was der gescheiterten Südstaaten-Schönen bei ihrer Flucht nach New Orleans widerfährt. Im bescheidenen Heim ihrer Schwester Stella sucht sie, des Hauses der Familie und ihres Rufes als Lehrerin verlustig, Ruhe und Geborgenheit. Doch Stellas raubeinigem Ehemann Stanley sind Blanches geziert aristokratische Allure und ihre demonstrative Verletzlichkeit ein Dorn im Auge. Die Konflikte der extrem ungleichen Charaktere steigern sich bis zum vergeblichen Rauswurf der ungebetenen Mitbewohnerin und kulminieren in ihrer rabiaten Vergewaltigung. Die schwangere Stella kann nicht vermitteln, Blanche endet trostlos in der Psychatrie.
Erdacht hat sich die 1947 in New York uraufgeführte, mit dem Pulitzer-Preis gekrönte Geschichte der amerikanische Dramatiker Tennessee Williams und nach einer Straßenbahnlinie symbolhaft „Endstation Sehnsucht“ betitelt. Sie verarbeitet eigene Erfahrungen, wurde zum modernen Klassiker und hat als Film Furore gemacht. Auch der Tanz ließ sich den Stoff nicht entgehen: John Neumeiers Version 1983 für das Stuttgarter Ballett folgten Lesarten etwa 2006 in Halle, 2009 in Greifswald. Für sein Cottbuser Ensemble konnte Dirk Neumann in Martin Chaix einen arrivierten Choreografen der jüngeren Generation gewinnen. Als ausgesprochen geschickt und theaterwirksam erweist sich der Zugriff des Franzosen auf das sich schürzende Geschehen.

In zwei Ebenen gliedert er es 75 kompakte Minuten lang. Alle Figuren lässt er aus dem Saal auftreten. Vorn, auf dem überdachten Orchester, tanzen am Anfang zu Dixieland drei Paare, lassen Burschen die Röcke ihrer Freundinnen fliegen. Die Paare zeichnen stücklang das Kolorit der Stadt, von Unbeschwertheit bis zu Gewalt. Derweil wartet im Halbdunkel des Hintergrunds schon Blanche. Der Kleiderkoffer, den Jungen höflich hereintragen, enthält, was ihr aus besseren Tagen geblieben ist. Bereits ihr erstes Solo mit seinen großen, noblen Formen des klassischen Kanons, auch das imaginierte Liebesduett mit dem Ex-Gatten Allan weisen sie als Fremdkörper in einer zupackend realistischen, derb illusionslosen Welt aus.


Das Wiedersehen mit Stella trübt Stanley. Blanches Vornehm-Getue, ihr ausgiebiges Bad stacheln seinen Unmut an. Bei seinem Kartenspiel mit Kumpeln, lässig räkelnd, dann gespickt akrobatisch, kündigt sich Hoffung für Blanche an: Der naive Mitch verliebt sich in sie. Seinen Ring lehnt sie ab, erinnert sich an Allan, den sie mit einem Liebhaber erwischt, der sich daraufhin erschossen hat. Dann läuft die Situation aus dem Ruder. Stella flattert zwischen Schwester und Mann, dessen bis zur Rohheit gesteigerte Aggression treibt Blanche in den Wahn.
Der Choreograf beweist eindrücklich, dass sich Spitzentanz und zeitgenössische Erfindung, atemberaubend in der Vergewaltigungsszene, bestens vertragen. Zu perfekt zugeordneter Musik afroamerikanischer Komponist*innen entwirft er ein packendes Kolossalgemälde feministischer Unterdrückung und führt die verjüngte Cottbuser Kompanie zu einer Leistung der Sonderklasse. Alessandra Armorina in den Schattierungen der Blanche, Kate Farleys hilflose Stella, Fernando Casanovas militanter Prolet Stanley sind tänzerisch und gestalterisch die dramatischen Spielführer in einem formidablen zwölfköpfigen Ensemble.

Dramatik indes auch hinter den Kulissen. Offenbar nach internen Misshelligkeiten verlässt Ballettdirektor Dirk Neumann das Staatstheater, wohl weder freiwillig noch einvernehmlich. Was er in privilegierten 19 Jahren aufgebaut hat, wirkt fort. Aus einem Rumpfballett als Anhängsel des Musiktheaters formte er eine personell aufgestockte, nun eigenständige Kompanie, der er auch ein präsentables Probenzentrum erkämpfte. Rund zwei Dutzend Choreograf*innen von nationalem und internationalem Renommee lockte er als Gast nach Cottbus. Dem Ensemble von Ruf weit über die Region hinaus, mit 90 Prozent Auslastung die bestlaufende Sparte des Hauses, bescherte das stilistisch fordernde Aufgaben, den Zuschauern ein Repertoire der immer neuen Sichtweisen auf Tanz. Inma López Marín und Stefan Kulhawec, langjährig verdiente Ensemblemitglieder, übernehmen als Doppelspitze ab März seine Nachfolge und damit sein Vermächtnis. Die Schuhe, in die sie schlüpfen, sind groß. Man kann ihnen beim Gang darin nur Glück wünschen.