Premiere im Theater Münster: „Sexes“ und „Sacre“ •
Von Bettina TROUWBORST
Als Ludwig van Beethoven im Mai 1804 von Napoleons Krönung zum Kaiser erfuhr, geriet er in Zorn – und nahm die Widmung für Bonaparte auf seiner dritten Sinfonie, der „Eroica“, zurück. Er empfand die Emporhebung als Verrat an den republikanischen Ideen, deren Anhänger er war. Lillian Stillwell, Direktorin und Chefchoreografin von Tanz Münster, wählte die „Eroica“ für ihr neues Stück „Sexes“. In ihrer Auseinandersetzung mit den Geschlechtern stellt die US-Amerikanerin den Idealen des machtbesessenen Heldentums des 19. Jahrhunderts die Vision einer harmonischen Gemeinschaft entgegen. Die Uraufführung von „Sexes“ und Edward Clugs atemberaubende Version von Strawinskys „Le Sacre du Printemps“ von 2012 fügen sich im Theater Münster zu einem Tanzabend, dessen Bilder noch lange im Kopf bleiben. Das Sinfonieorchester Münster unter der Leitung von Henning Ehlert hat daran hohen Anteil.
Der Geschlechterkampf auf der Tanzbühne – eigentlich auserzählt. Doch Lillian Stillwell findet einen schlüssigen Zugang. Gleich zu Beginn steht ein Tänzer im Frack vor dem Vorhang und dirigiert schwungvoll Beethoven. Eine Tänzerin stößt dazu und gibt, hoch ambitioniert und deutlich emotionaler, den Takt vor. Diese beiden, Amanda Cruz Portuondo und Enrique Sáez Martínez, bilden das zentrale Paar mit On-Off-Beziehung.
Die Tanzschöpferin charakterisiert in einer Reihe fein choreografierter Tänze den Umgang der Geschlechter miteinander: kokett, konkurrierend, kämpferisch. So entstehen wunderschöne, bewegte Fresken. Es gibt neoklassizistische Anklänge in der Formensprache und später mit den historischen Uniformröcken auch bei den Kostümen. Verführung liegt permanent in der Luft: Von sanfter Erotik sind die halbtransparenten Kleider über Tops und Slips, wie sie im Laufe des Abends auch die Männer kleiden. Lustvoll geht Sáez Martinez eine Reihe von Frauen ab und greift sich Cruz Portuondo forsch zum Tanzen.
Ein Blickfang ist im zweiten Teil die Bühne aus tortenstückförmigen Modulen. Darauf räkeln sich die Frauen wie im Nachtklub. Konventionell ist hier wenig: Die Männer werden halbnackt unter den Dreiecken zu Duetten hervorgezogen, die zu Kräftemessen und Machtspielen werden. Erholsam, wenn sich im Schlusssatz eine visionäre Harmonie in Himbeerrot einstellt – Frauen und Männer nicht nur farblich vereint.
Das choreografische Material, ob Drehungen, Sprünge, Schritte – Stillwell treibt alles einen Tick weiter in einen hinreißenden, spielerischen Effekt. Nervig allerdings ist das immer gleiche Hin und Her zwischen Amanda Cruz Portuondo und Enrique Saez Martinez. Auf starke Anziehung folgen Streiterei und ein hochnäsiger Abgang der Tänzerin – sie sucht nach einem anderen Mann.
Souverän setzt die Chefchoreografin Solist*innen und Ensemble in Szene, auch über mehrere Ebenen gleichzeitig, wie es die Module aus Treppen und Podesten ermöglichen, wo Tänzer*innen zu Skulpturen „einfrieren“. „Sexes“ ist ein Gesamtkunstwerk aus Tanz, Musik, Kostümen und Ausstattung. Es gibt Momente, da meint man, die Choreografie sei zu anspruchsvoll für die sehr junge Truppe – wobei deren Vitalität technische Unsicherheiten ausgleicht.
Doch dann, im zweiten Teil des Abends, in der „Sacre“-Version des international renommierten Edward Clug, wirkt die Kompanie gereift. In Strawinskys Jahrhundertwerk agiert die nur 14-köpfige Gruppe technisch wie im Ausdruck souveräner. Die Interpretation des Rumänen orientiert sich an der Originalfassung, die das heidnische Ritual des Frühlingsopfers in Gestalt eines Mädchens thematisiert. Neben grandiosen choreografischen Einfällen – wie dem Federn im Liegestütz zum basso ostinato – fokussiert sich Clug auf die Kraft der Urgewalten. Wie Pina Bausch 1975 ihr Tanztheater Wuppertal auf Torf, Element Erde, barfuß agieren ließ, wählte Clug das Element Wasser. Aus Fontänen schießt es vom Bühnenhimmel.
Auf dem nassen Boden entstehen wunderbare Momente, wenn Tänzerinnen durch das Wasser schießen und gleiten oder wenn Männer an ihren Händen Tänzerinnen im Kreis durch das Nass ziehen. Wenn das Opfer (erneut stark gefordert: Amanda Cruz de Portuondo) sich im Regen zu Tode tanzt, bleibt niemand unberührt. Ein erstaunlicher Abend mit einem kleinen, höchst vielversprechenden Ensemble.