"Bolero" von Maurice Béjart Foto © Lauren Pasche
Performance

KLEINE TANZGESCHICHTEN 2 von Edmund Gleede

Die Artikelreihe für Choreografen –


„Boléro“, Ballett in einem Akt (Spieldauer 20 Minuten) Libretto und Choreographie: Bronislawa Nijinska, Musik: Maurice Ravel. Uraufführung: 22.11.1928 durch die Ida-Rubinstein-Ballettkompanie in der Pariser Salle Garnier.

Die Idee zu diesem Ballett von Bronislawa Nijinska ist eine spanische Taverne, in der eine aufreizende Frau einen lasziven Tanz vollführt, der die männlichen Gäste erregt und provoziert. Der Tanz steigert sich und wird immer heftiger. Sie springt auf einen Tisch in der Mitte des Lokals und ihr „table dance“ wird immer erotischer und verführerischer. Mit der ständig zunehmenden Farbigkeit, Intensität und Lautstärke der Musik kommen die Männer immer näher an den Tisch heran und springen schließlich, als keine Steigerung mehr möglich ist, auf dem Höhepunkt der Raserei und Ekstase auf den Tisch, wo sie die Tänzerin packen und zum Schluß mit ausgestreckten Armen hoch über ihre Köpfe halten und anbeten. In seiner 1961 fürs „Ballett des zwanzigsten Jahrhunderts“ geschaffenen Interpretation hat Maurice Béjart (1927 – 2007) sich ziemlich genau an dieses Original-Libretto von Nijinska gehalten, hat aber die Grundidee durch seine Choreographie und Inszenierung zugleich abstrahiert, sexualisiert und verschärft: bei ihm ist die Taverne einem schwarzen, leerem Raum gewichen, in dem nur noch ein riesiger roter Tisch steht, auf dem sich die Tänzerin (genannt: die Melodie) von Anfang an bewegt. 40 Tänzer (genannt: der Rhythmus) sitzen auf Stühlen an der rechteckig abgezirkelten Begrenzung der Bühne und schauen den anfangs noch zurückhaltenden Bewegungen der Solistin zu. Nach und nach stehen einzelne Tänzer auf und treten in einen auf Distanz gehalteten spannungsgeladenen Dialog mit der „Melodie“.

Am Schluß springen alle 40 Männer auf den Tisch, fallen über die „Provokateurin“ her und begraben sie unter sich. Aus der Anbetung der Frau in Nijinskas Original wird bei Béjart gewissermaßen eine Massen-Orgie mit stilisiertem Orgasmus. Diese Béjart-Version hat sich heute auf allen großen Ballett-Bühnen der Welt durchgesetzt, wobei Béjart auch Varianten ausprobierte: z.B. mit einem Mann auf dem großen, roten Tisch und 40 Tänzerinnen, schließlich auch als reines Männerballett mit einem männlichen table-dancer.

Polina Semionova in Maurice Béjarts „Bolero“ Staatsballett Berlin, Foto Ilia Chkolnik

Die erotische Durchschlagskraft von Béjarts „Boléro“-Konzeption, die sich, wie gesagt, auf der ganzen Welt durchgesetzt hat, inspirierte den amerikanischen Filme-Macher Blake Edwards („Victor/Victoria“) zu seiner Sex-Komödie „Ten-die Traumfrau“, in der die Sex-Bombe Bo Derek zu Ravels Boléro-Musik einen Geschlechtsakt mit dem Hauptdarsteller des Films vollführte. Dadurch  fühlte sich eine ganze Generation dazu veranlaßt, zum Sex eine Schallplatte mit Ravels „Boléro“ aufzulegen. Das ist eigentlich sehr komisch, weil Ravel ursprünglich beim Komponieren an die Industrialisierung, an Fabriken mit Fließbändern dachte, was für Ballett-Schöpfer und Regisseure eine ganz andere Auslegung dieses klassischen „Schlagers“ anbietet bzw. ermöglicht.

„La Valse“, Ballett in einem Akt, Spieldauer 15 Minuten. Musik: Maurice Ravel (7.3.1875 – 28.12.1937), Choreographie: Bronislawa Nijinska (8.1.1891 – 22.2.1972). Uraufführung am 12.1.1929 durch die Ida-Rubinstein-Ballettkompanie in Monte Carlo.

Das Ballett „La Valse“, ursprünglich als Apotheose des Wiener Walzers unter dem Arbeitstitel „Wien“ konzipiert, war zunächst gedacht als Hommage an den Wiener Walzerkönig Johann Strauß Sohn (25.10.1825 – 3.6.1899). Ravel nannte das 1920 konzertant uraufgeführte Stück ein „choreographisches Poem“ und stellte sich einen kaiserlichen Hof Mitte des 19. Jahrhunderts mit vielen Walzertanzenden Paaren unter einem Glitzermeer von zahllosen Kronleuchtern vor. Seine Regie-Anweisung: „Herumwirbelnde Wolken geben den Blick frei auf walzertanzende Paare in einem riesigen Spiegelsaal, der von der kreisenden Menge erfüllt wird. Der Saal wird heller und immer heller bis der Schein der Kronleuchter in ein Fortissimo ausbricht.“ Ravel hatte an diesem Konzept schon vor dem Ersten Weltkrieg, in den Jahren 1906 bis 1914 gearbeitet.

Judith Turos und Peter Jolesch in „La Valse“, Bayerischer Staatsoper, Foto Sabine Toeppfer

Durch den Krieg und unter dem Eindruck des Todes seiner über alles geliebten Mutter (1917) entwickelte sich das Werk zu einem „Danse macabre“: einem Tanz auf dem Vulkan. Und so wurde die im schleppenden Walzer-Rhythmus komponierte Verherrlichung der glanzvollen Kaiserzeit zum Abgesang auf eine untergehende, untergegangene Epoche: zum Totentanz über das Zusammenkrachen der Donau-Monarchie. Serge Diaghilew (31.3.1872 – 19.8.1929), der Direktor der „Ballets Russes“, der das Ballett ursprünglich in Auftrag gab, hatte sich etwas anderes vorgestellt als das, was Ravel ihm lieferte und weigerte sich, Ravels Ballettkomposition herauszubringen mit den Worten: „Dies ist zwar ein Meisterwerk, aber kein Ballett!“ Der erste Ballett-Schöpfer, der den Totentanz-Charakter dieses Geniestreichs von Ravel begriff, war der Chef des New-York-City Balletts, George Balanchine (22.1.1904 – 30.4.1983), als er am 20. Februar 1951 seine Version des komplexen Stücks in New York herausbrachte: unter Zuhilfenahme von Ravels „Valses nobles et sentimentales“ (acht Walzer im Stile Schuberts von 1911), die er Ravels Tondichtung als quasi Prolog voranstellte, machte Balanchine aus dem „poème choreographique“ eine psychologische Studie über das Besitz-Ergreifen: Da der Walzer in der Geschichte des Tanzes der erste Tanz war, bei dem sich die Tanzpartner anfassen und umarmen durften, schuf Balanchine ein choreographisches Lehrstück über Hände, Arme, Anfassen, Umarmen, An-sich-Ziehen, An-sich-Drücken und schließlich – Zerdrücken. Um diese Idee, (daß aus Liebe auch Mord werden kann: aus dem Besitz-Ergreifen der Tod des „Objektes der Begierde“) zu versinnbildlichen, unterlegte Balanchine seiner Interpretation von Ravels „La Valse“ die alte Geschichte vom Tod und dem Mädchen: Der Tod überhäuft das Mädchen mit Geschenken (unter anderem mit einem Brautkleid, das zum Totenhemd wird), tanzt mit ihr ruck-artig und Roboterhaft Walzer, reißt sie brutal an sich und zerdrückt, zerbricht, zerknickt sie, so daß sie am Schluß des Stücks tot umfällt. In dieser genialen Inszenierung hat sich Ravels „La Valse“ als Klassiker auf allen großen Ballettbühnen der Welt durchgesetzt.

„Ma mère l’oye“ (Meine Mutter, die Gans) Ballett in einem Akt (5 Bildern) Spieldauer 30 Minuten. Musik und Libretto von Maurice Ravel. Choreographie von Léo Staats (26.11.1877 – 15.02.1952). Uraufführung durch das Pariser Opernballett am 11. März 1915 in der Pariser Salle du Trocadéro.

Maurice Ravel war sehr kinderlieb und erzählte den Kindern seiner Nachbarn oft französische und russische Märchen. 5 von diesen Märchen vertonte er und machte daraus ein kleines Handlungsballett in der Tradition der französischen „Ballet-Féerie“, die auch von russischen Ballettschöpfern gepflegt wurde und in Marius Petipa´s und Peter Tschaikowskys „Dornröschen“ gipfelt. Formal ähnelt dieses kleine Nummernballett dem 3. Akt „Dornröschen“, in welchem ebenfalls ein Aufzug beliebter Märchenfiguren als Grand-Divertissement stattfindet. Auch die Handlung von „Mutter Gans“ erinnert an „Dornröschen“: Hier wie dort verletzt sich eine Prinzessin an einer Spindel und fällt ins Koma. Im Traum erscheinen dieser Prinzessin Florine die anderen Märchenfiguren. Eine Märchenfee namens Bénigne, die eine Schwester der guten Fliederfee aus „Dornröschen“ sein könnte, inszeniert im Traum der Prinzessin Florine die Märchen „Die Schöne und das Biest“, „Der kleine Däumling“ und „Laideronette, die Herrscherin der Pagoden“. In der nachfolgenden „Apotheose“ tritt, ebenfalls wie in „Dornröschen“ ein Märchenprinz auf, der die schlafende Prinzessin Florine wachküßt. Happy End und Hochzeit. Die ursprünglich als einfache Kinderstücke für Klavier komponierten Musiknummern wurden durch Ravels außergewöhnliche Orchestrierungskunst zu ausdrucksstarken Klangbildern erweitert, die die Fantasiewelt des Märchens zu einem völlig einzigartigen, sinnlichen und farbigen Kosmos macht, in dem die Tanzrhythmen Marsch, Walzer und Pavane eine ebenso wichtige Rolle spielen wie in Tschaikowskys „Dornröschen“. Die dem Handlungsverlauf dienenden Zwischenspiele verbinden die einzelnen in sich geschlossenen Bilder, Musiknummern und Tänze zu einer quasi durchkomponierten Einheit. Das Werk konnte sich auf der Ballettbühne bisher noch nicht so durchsetzen wie im Konzertsaal, wo es alleine durch seine musikalischen Qualitäten verzaubert. Hier sind fantasie-begabte Ballettschöpfer und Kindertheater-Regisseure gefragt. Für kreative Produktions-Dramaturgen und eine originelle Spielplan-Gestaltung ist dieses halbstündige Kinderballett eine Herausforderung, da es gilt, diesen kleinen Einakter mit Märchenstücken ähnlichen Charakters zu kombinieren. Um einen solchen Märchenabend zum Abendfüller auszubauen, würden sich hier Prokofieffs „Peter und der Wolf“ sowie der „Karneval der Tiere“ von Camille Saint-Saëns als Ergänzungs- bzw. Komplementär-Stücke anbieten.