Drei Schritte auf der Bühne, und der Abend macht schon total Spaß. Bei „Jazz“ gibt es zwei Stunden puren Tanz – sinnlos-sinnliche Bewegung und ein ansteckendes Strahlen auf den Gesichtern der Tänzer anstelle philosophischer Programme und Inspirationen aus Kunst oder Literatur, die man nachher mühsam auf der Bühne sucht. Den Karlsruher Jazztrompeter Thomas Siffling verbindet eine langjährige Zusammenarbeit mit dem Badischen Staatstheater und mit Choreograf Kevin O’Day. Sifflings sechsköpfige Band sitzt in der hinteren Bühnenmitte auf einem Podium und spielt Kompositionen des Bandleaders – melodiösen, eingängigen Jazz, mal eine nachtblaue Ballade, mal hüftbezirzende Latin-Rhythmen, alles swingend, groovig und höchst anregend. Wir dürften gerne mal ein „Alright“ oder ein „Oh yeah“ reinrufen, regt der sympathische Komponist zu Beginn an, entsprechend ungezwungen genießt das Publikum den Abend – die interessante Zahl von zweimal 13 Tänzern fordert keineswegs das Unglück heraus, ganz im Gegenteil.
Stina Quagebeurs „Deviations“ wird in einem weiten, beleuchteten Ring getanzt, der ein passendes Bühnenbild für Wagners „Ring des Nibelungen“ wäre. Er fährt anfangs in die Höhe, wechselt ab und zu die Farbe und kreist die Tänzer am Schluss wieder ein. Getanzt wird auf Spitze und höchst virtuos, manchmal geradezu klassisch statt neoklassisch, mit schön gerundeten Armbewegungen zum Beispiel, langen Balancen und jeder Menge Grand Jetés, mit neckisch hingetupften Piqués oder Überkopfhebungen. Manches mutet an wie eine Ballettexercise, genau wie William Forsythe in seiner aktuellen Spätphase aber vereint Quagebeur in ihren locker dahinchoreografierten Übungen das klassische Vokabular mit einer hellen Lebensfreude und einem übermütigen Rhythmusgefühl. Eloquent konterkariert die belgische Choreografin, die beim English National Ballet tanzte und auch zu choreografieren begann, die Klarheit der akademischen Linien mit Motiven aus dem Ballroom Dance oder weiten Schwüngen aus dem Eistanz, mit weichen Wellenbewegungen der Arme oder einem fröhlichen Joggen. Von rasanten Allegro-Kaskaden bis zur sehnenden Zeitlupe spielt sie hochmusikalisch mit dem Tempo, immer wieder groovt ein Einzelner die Gruppe ein, oder einer schert aus und brilliert solistisch, bis ihn die anderen wieder einfangen – genau wie im Jazz, auf dessen leichte Rhythmusabweichungen der Titel anspielt.

Die spiegelbildlichen Strukturen scheint man von George Balanchine zu kennen, dann wieder spielt eine Nummer drei Gruppen gegeneinander aus, Motive springen durch die Reihen. Die langbeinige Bridgett Zehr und Louiz Rodrigues tanzen ein elegantes Duo, romantisch und geheimnisvoll, João Miranda wirbelt rasant, Carolina Martins lockt mit Blicken und mit Schritten – aber eigentlich bekommt hier jede(r) der 13 Tänzer seinen oder ihren Spot im Rampenlicht.

Für Kevin O’Day, den Artist in Residence des Badischen Staatsballetts, deutet Bühnenbildner Alex Gahr eine reale Szene an – rechts und links der tollen Band weilen Paare unter Hausdächern aus Lichtröhren, die sich später in die Höhe heben. Statt der schwarzen, ganz fein rot abgesetzten Einheitskostüme des ersten Werkes hat Kostümbildnerin Elisabeth Richter nun bunte Röcke für die Frauen und weite Hosen für die Männer entworfen, ein wenig sieht es nach den 1950ern aus. Für „Your Place or Mine?“ zieht die Band nach der Pause durchs Auditorium ein, mit Baris Comak folgt ihnen ein einzelner Tänzer, der in der Folge die sechs Paare immer wieder durcheinanderwirbelt – ein lockerer Außenseiter und Joker, selbstsicher und ein wenig mysteriös.

Der Tanzstil ist etwas amerikanischer, verwischter, cooler, mehr Modern Dance als Klassik, das Jazzfeeling ist freier. Der muntere Außenseiter lacht sich immer wieder die Mädchen der anderen an, nackte Oberkörper vermitteln die Hitze der Nacht, munter wechseln die Paare die Partner. Stärker als bei Quagebeur steht hier die Anziehungskraft zwischen Frauen und Männern im Vordergrund, sie beflügelt die Konkurrenz und Gruppendynamik unter den Männern, aber die Stimmung bleibt leicht und unbeschwert. Flatternde Handschläge aufs Herz ziehen sich als ironisches Liebesmotiv durch, immer wieder finden sich die Paare zum Swing oder schmiegen sich zur Rumba aneinander, manchmal auch die Männer.
Baris Comak flirtet ins Publikum herüber, legt sich auf den Boden und sieht den anderen zu, wirbelt in weiten Sprüngen über die Bühne. Nami Ito, Balkiya Zhanburchinova und Natsuka Abe tanzen laszive, einsame oder virtuose Solos, auch dieses Stück zeigt freien, entspannten und dabei sehr virtuosen Tanz. Sowohl Stina Quagebeur als auch Kevin O’Day geben dem starken Karlsruher Ensemble reichlich Gelegenheit, nicht nur Technik und Rhythmusgefühl auszuspielen, sondern auch Persönlichkeit zu zeigen. Ein getanzter Jazz-Abend mag leichtgewichtig klingen (nicht dass wir so viele davon hätten), aber eine solche Premiere nur sechs Wochen nach dem großen historischen Handlungsballett „Maria Stuart“ auf die Bühne zu wuppen, das zeugt von einfallsreicher Programmierung der Ballettchefin Bridget Breiner – und von einer Stilvielfalt, um die man Karlsruhe nur beneiden kann.
Angela Reinhardt