Das Land des Belcanto hat auch das Ballett erfunden, heute aber ziehen viele der Nachfolger der Legenden Taglioni, Cerrito, Grisi, Legnani, Cecchetti oder Fracci nach Norden über die Alpen, weil es in ihrer Heimat kaum eine Handvoll Ballettkompanien gibt. Noch vor Hamburg, Düsseldorf, München oder Hamburg, wo viele von ihnen tanzen, ist die erste Station Stuttgart, wo via John-Cranko-Schule besonders viele italienische Tänzer in die Kompanie kommen. Gleich drei von ihnen vereinigt der Uraufführungsabend „Creations X – XII“, man hätte so leicht „Una notte italiana“ darüberschreiben können. Vittoria Girelli, Alessandro Giaquinto und Fabio Adorisio aber ist nicht nach Unterhaltung zumute, in manchen Passagen der Stücke steckt mehr gute Absicht als Tanz.

Todschick mutet Vittorio Girellis „In Esisto“ an, der Titel ist ein Wortspiel aus „ich existiere in“ und, zusammengeschrieben, „ich existiere nicht“. Getanzt wird in einem Raum mit einer rechteckigen Aussparung hinten, entworfen hat ihn genau wie das Lichtdesign A.J. Weissbard. Man kennt das Zimmer aus Wayne McGregors „Chroma“ oder Akram Khans „Kaash“, jetzt aber leuchtet es in strahlendem Weiß, genau wie die weiten Stoffhosen, die Girelli selbst entworfen hat. Verstörend wirken unter den glattgegelten Haaren sämtlicher Tänzer einzig die großen, keinen Sinn ergebenden Tattoo-Buchstaben auf den Hälsen der Männer. Getanzt wird auf halber Spitze zu einem musikalischen Arrangement von Davidson Jaconello, das man nach dem anfänglichen Wispern zu schnell vergisst. Faszinierend changiert das Licht zwischen Pfirsich-Beige, lichtem Pink und einem Blätterwald in sanftem Türkis, die Körper wirken wie lebendig gewordene Edel-Accessoires in einem Showroom. Die Choreografie ist ein Dehnen, Strecken, Schieben oder Gleiten von Pose zu Pose, wohl gibt es auch Drehungen oder das gegenseitige Verbiegen zweier Partner, etwa bei Mackenzie Brown und Martino Semenzato. Spannend aber wird es erst in der zweiten Hälfte des Werkes, wenn sich alle Tänzer wie zu einer Sekte vereinen, die sich identisch durch den Raum bewegt. Die eng nebeneinander, immer gemeinsam erhobenen Hände werden zum Leitmotiv, ragen wie betend vors Gesicht, recken sich gemeinsam nach oben. Girelli weiß die Gruppendynamik raffiniert einzusetzen, aber leider wirken ihre Tänzer, wie schon in ihrem letzten Stück, durch die optische Stilisierung wie Chiffren, wie Figuren aus einem jener Science-Fiction-Film, in denen es um verschwundene Seelen und totale Überwachung geht. Ein hochästhetisches und gleichzeitig sehr kühles Stück.

Heftiger toben die Gefühle bei Alessandro Giaquinto, der wohl zu einer ähnlichen Struktur greift (erst Solos und Duos, dann die ganze Gruppe), der aber Trauer und Verlust deutlich spürbar macht. In einem dystopischen, scheinbar unterirdischen Raum, ein einzelnes Licht von oben erhellt ein paar Betonsäulen im Dunkeln, sehen wir einen großen Erdhaufen, offensichtlich ein frisch aufgeschichtetes Grab. Die Trauergemeinde, die nach und nach aus dem Dunkel auftaucht, geht nicht in Lumpen, sondern ist in edle Ökostoffe gewandet (Mylla Eks schöne Kostüme passen nicht ganz zum hoffnungslosen Bühnenbild von Chiara Bugatti). Wütend werfen sie Erde zu Erde, fast alle Bewegung bezieht sich auf den Grabhügel, der zu einer Collage aus Kammermusik und einem traurigen Song ganz langsam zerbröselt und im Boden verschwindet. Auch hier wird gebetet und dann auch gekniet, vor allem aber wird eine starke Erschütterung sichtbar. Das Ballett mit dem schönen Titel „Ascaresa“ („Nostalgie“ oder „Sehnsucht“) entstand aus Trauer über den Tod von Giaquintos Großvater. Die Tänzer, darunter die starke junge Elevin Ruth Schulz, Martí Fernandéz Paixà, Riccardo Ferlito und der wie immer grandiose Timoor Afshar, tanzen und flüstern verzweifelt gegen das Vergessen des Begrabenen an, nach und nach werden sie dreckiger, ohne jede Berührung bleibt die Erde doch als Erinnerung an ihnen haften. Giaquinto zeigt Tanz als direkten Ausdruck von Gefühlen – das mag nostalgisch sein, geht einem aber deutlich näher als Girellis klinisch-weiße Eleganz und stellt auch die beseelte Energie der Stuttgarter Tänzer viel intensiver heraus.


„Lost Room“ heißt Fabio Adorisios Stück, und hier hat endlich einer Mut zur Klassik: Getanzt wird hochmusikalisch zu zwei Cellosonatensätzen von Sergej Rachmaninow und Edvard Grieg, arrangiert und ergänzt von Marc Strobel. Es entsteht ein Dialog mit der Musik, die den Tanz in den anderen beiden Stücken einfach nur passend begleiten zu scheint. Vier labyrinthische, dunkle Wände markieren das „verlorene Zimmer“, in dem eine Gruppe von sieben Tänzern in schwarzschimmernden Kostümen strandet (es ist der Abend der weiten Hosenbeine). Immer wieder brechen Einzelne aus, Gruppen finden sich zusammen, die anderen stehen schwankend wie Zombies, kleben an der Wand, surreal ragen halbe Körper wie Erinnerungen hinter den Ecken hervor. Adorisio entwickelt seine Bewegungsmotive direkt aus der Musik heraus – da springt ein Schütteln fast lakonisch von Körper zu Körper, Matteo Miccini hebt die Arme und der Tänzeroganismus am Boden zuckt sanft zusammen, ein Quartett zerfließt zu zwei identischen Duos. Selbst in den Gruppen entwirft der Choreograf für alle Tänzer unterschiedliche Schritte, zeigt gute Ideen und ein reiches Vokabular.
Die kontinuierliche Förderung seiner drei italienischen Talente durch Ballettintendant Tamas Detrich zeitigt durchaus eine Entwicklung; die ganz große Entdeckung aber, das kristallisiert sich seit ihren Anfängen bei den Noverre-Abenden heraus, ist eher nicht dabei. Mit all den Choreografen-Titanen, die seit John Crankos Zeiten aus dem Stuttgarter Ballett hervorgingen, sind die Kompanie und ihr Publikum einfach extrem verwöhnt. Natürlich wäre es einfacher, aktuelle Berühmtheiten wie Crystal Pite, Sidi Larbi Cherkaoui oder Hofesh Shechter zu holen, so man sich denn in ihre bestens gefüllten Kalender quetschen kann. Stuttgart bleibt konsequent in der Förderung des eigenen Nachwuchses, aus dem noch immer Überraschendes erblühte, manchmal dauert es halt ein paar Jahre oder gar Jahrzehnte. Bis dahin heißt es: Warten auf den nächsten Marco Goecke.
Angela Reinhardt