Bach in der Busgarage vom Band, irgendwo am Stadtrand von Wernigerode im Harz. Tags zuvor spielte Cellist Jens Hartmann die drei Solo-Suiten für Violoncello live im Dom St. Stephanus in Halberstadt. Dort saß der Musiker direkt vorm Publikum. Gleichzeitig erschien er mannshoch projiziert auf eine Leinwand auf der Bühne, die Tarek Assam in den Dom hat einbauen lassen. Sowohl in Wernigerode als auch in Halberstadt wurde dieselbe Choreografie getanzt: im Dom von allen zwölf Tänzerinnen und Tänzern der von Assam geleiteten Tanz Harz Compagnie, in der Busgarage von sieben, da die restlichen fünf in einer anderen Produktion des Nordharzer Städtebundtheaters ihren Dienst schieben mussten. Der Boden in der Busgarage besteht aus sogenanntem Funktionspflaster.
Normalerweise rollen die großen Räder, die die Buskabinen durch die Städte im Harz gondeln, über die verbundenen Steine. Jetzt, am Abend, ist es die Sonne, die ihre Strahlen auf den grauen und rauen Boden wirft. Das verkleinerte Ensemble trägt Sneaker, lange blaue Hemdblusen, helle Hosen und schaut in die Weite und gleichzeitig jeder weit in sich hinein. Ernst. Konzentriert. Durchlässig und sehr fein. Man sitzt direkt vor ihnen auf weißen Plastikstühlen, die man sonst nur von Campingplätzen oder Außenplätzen vor Dönerbuden kennt. Die Choreografie, die sie am Abend zuvor im Dom zur Uraufführung brachten, ist nun satt in ihrem Körper angekommen und sie tanzen fast für sich.
Die unwirtliche Gegend, die ihnen in den kurzen Pause keine Gelegenheit gab, sich den Blicken des Publikums für wenige kurze Momente zu entziehen und sich auf den nächsten Teil einzustellen, gibt es hier nicht. Alle, Publikum und Tänzer warten von daher, bis der Techniker an den Scheinwerfer fertig geschraubt hat,was geschraubt werden musste, um den Lichtwechsel hinzubekommen, auch wenn es lange dauert. Das alles aber steigert noch die Intensität: Jedes Tanzen erweist sich in diesen Momenten als Vollzug und Handlung. Man teilt mit den Tänzerinnen und Tänzern wahrlich Zeit, Raum und den Fluss ihrer Bewegungen, die sich zu einem ungemein ausgeglichenen Tanzwerk verweben.
Einzelne Gesten oder Bewegungen des über einstündigen Bewegungskonglomerats wurden in den Tagen zuvor in Fotos festgehalten. Sie hängen nicht hier, sondern im Kreuzgang im Halberstädter Dom, der zum Domschatz führt, dem größten außerhalb des Vatikans. Sie stammen von Rolf K. Wegst, und Assam ließ eine ganze Reihe dieser Fotos unter dem Motto „Zeitgenössischer Tanz trifft auf Geschichte“ dort aufhängen. Stellt der Tanz in der Busgarage Unmittelbarkeit und nahezu tranceartiges Erleben von Tanz in Gemeinschaft her, energetisiert und verlebendigt er hier alte ehrwürdige, auf Vergangenheit ausgerichtete Gemäuer , deren Artefakte und Geschichten Museumsdirektorin Dr. Uta-Christiane Bergemann für die Gegenwart erforschen, aufleben und bewahren lässt.
Man kann diesen so vielseitig gestalteten Auftakt des diesjährigen Festivals „TanzArt ostwest“, das Assam mit seinem Team nun infolge seines Wechsels von Gießen in die ostdeutsche Provinz dort als erstes Tanzfestival von Sachsen-Anhalt verankert hat, nicht anders als ein die Seele und den Tanz bereicherndes Abenteuer bezeichnen. Denn dazu trugen nicht nur der geschilderte Ortswechsel der Choreografie vom sakralen Dom- in den profanen Garagenraum bei, sondern auch der besondere thematische Ansatz. „Oratio in Danza“ hat Assam die Choreografien benannt. Übersetzen würde man es als „Getanztes Gebet“ oder als „Ein Sprechen und Beten mit den Mitteln des Tanzes“. Als Co-Choreografen eingeladen hat er dazu Steffen Fuchs vom Theater Koblenz und Gianni Cuccaro, unter anderem für das Theater Bielefeld tätig.
Inhaltliche Bezüge werden im Untertitel verraten: „Drei Choreografien zur Bergpredigt“, jenen Schlüsselsätzen und Gleichnisworten von Jesus von Nazareth vom Salz der Erde und vom Licht der Welt, vom Umgang mit dem Schwören, Vergelten, Ehebrechen oder dem Töten und der Feindesliebe. Auffallend ist, dass alle drei Choreografen relativ abstrakt und maßvoll bleiben und auf diese Weise, an beiden Aufführungsorten, das dann sensationelle, körperlich-energetische Ereignis des tanzenden Menschen an sich ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken darf. „Oh, Mensch, lerne tanzen, sonst wissen die Engel im Himmel nichts mit Dir anzufangen“, lautet der letzte Satz eines berühmten Poems, das in diesem Zusammenhang immer wieder gelesen werden sollte. Zugeschrieben wird es dem Bischof von Hippo Augustinus Aurelius im vierten Jahrhundert, der darin das Ideal des befreiten, schwingenden, sich im Gleichgewicht aller Kräfte befindenden Menschen beschreibt, der ansonsten dauernd in Gefahr sei, „zu zerfallen“ und „ganz Hirn, Wille oder Gefühl zu werden“. Tanzt der Mensch in einer Kirche, erschließt sich dieses Potenzial sofort. Kommt dann noch eine Dramaturgie ins Spiel, die Fokussierungen zulässt, wird der Tanz zum Genuss. So kommt bei Steffen Fuchs, auch dank seiner neoklassischen Ausrichtung seiner Bewegungssprache, das Spielerische und Melancholische des Menschseins sehr gut zum Ausdruck, sogar noch mehr in der Busgarage, während die Aufführung im Dom das Schöne und Erhabene seines Stils zur Geltung bringt. Mit Cuccaros choreografischem Teil kommt Unruhe und Aufruhr ins Stück hinein, der Bewegungsstil wird sehr viel zeitgenössischer. Das Licht wandelt sich in intensives Blau. Die Tänzer agieren individualistisch. Sie stehen sich gegenüber, verfolgen sich, fixieren sich. Das Geschehen teilt sich auf mehrere Schauplätze.
Es finden Duette voller Nähe parallel zu Szenen statt, in denen dissoziative Zustände gezeigt werden. Alles treibt auf einen Siedepunkt hinzu. Choreografisch fällt auf, wie dezidiert Cuccaro Wiederholungen von Gesten einsetzt. Im dritten, von Assam kreierten Teil der Choreografie in nahezu durchgehendem weißen Licht, findet das Stück, das bei Cuccaro Feuer gefangen hat, wieder in große Formen zurück.
Oft agiert die ganze Gruppe gemeinsam, hebt einen nach oben, so wie die Gischt auf einer Welle tanzt, die wieder abebbt. Man könnte „Oratio in Danza“ so auch als getanztes Triptychon lesen oder als performative Darstellung der Triade aus These, Antithese und Synthese. Oder als Bild eines wogenden Meeres aus Leibern, die den Bezug zum Himmel nicht verloren haben.
Alexandra Karabelas
Fotos: TanzArt ostwest Festival 2023, Dom St. Stephanus und St. Sixtus in Halberstadt
ORATIO IN DANZA – drei Choreografien zur Bergpredigt zu drei Bach Suiten von Steffen Fuchs (Ballettdirektor am Theater Koblenz), Gianni Cuccaro (Leiter der Tanzsparte am Theater Bielefeld) und Tarek Assam (Chefchoreograph von Tanz Harz) .
Jens Herrmann (Cello).
Foto: Rolf K. Wegst