John Neumeiers Ballett „Endstation Sehnsucht“ erstmals in Prag
Die Bühne des historischen Prager Ständetheaters ist leer. Nur ein Bett. Krankenbett, oder eher im Irrenhaus? Auf diesem armseligen Requisit einsamer Verzweiflung ein Wesen, eine Frau. Es herrscht Stille, schmerzhafte Stille. Diese Frau, das ist Blanche DuBois, alles verloren, alles weg, als Lehrerin gefeuert, nur ein lumpiger Koffer, zerschlissene Habseligkeiten, Kleider, die an bessere Zeiten erinnern, ein kleines Radio, noch sind sie wohl da, die Töne der Sehnsucht.
Vor nunmehr 40 Jahren feierte John Neumeiers Meisterwerk des Tanztheaters nach dem 1947 in New York uraufgeführten Drama „A Streetcar named Desire“ von Tennessee Williams, seine Premiere beim Stuttgarter Ballett. Und bis heute, gerade aktuell, angesichts der tschechischen Erstaufführung beim Ballett des Prager Nationaltheaters, ist es unglaublich, wie es Neumeier gelungen ist, Perspektiven kraft des Tanzes zu eröffnen, die auch nicht durch Verfilmungen oder Vertonten des Dramas nur im Geringsten an bedrückender Kraft verloren haben.
In der Prager Aufführung tanzt Alina Nanu die Rolle der Blanche Du Bois, die diesem „Triebwagen“ der Sehnsucht nicht entkommt: „Tramvaj do Stanice Touha“ – so der tschechische Titel. Ihr bleibt nur die Flucht, eben mit jenem Koffer der traurigen Habseligkeiten, nach New Orleans zu ihrer von Irina Burduja getanzten Schwester Stella. Sie wohnt mit ihrem Mann, dem polnischen Eiwanderer Stanley Kowalski – grandios getanzt und dargestellt von Paul Irmatov – eben an jener Endstation einer Straßenbahnlinie, die hier keine Nummern, sondern Namen haben: „Desire“ – „Sehnsucht“ oder „Begierde“.
Fotos von Sergehi Gherciu
Zuvor ist Blanche geflohen, ja, getrieben vor allem von Sehnsucht, aber schon hier im Wahn verdrängten Wirklichkeit und idealisierter Flucht. Aber da ist sie nicht allein. Es geht schief, denn die Vergangenheit holt sie immer wieder ein, auch hier am vermeintlichen Ziel ihrer Sehnsucht. Nichts lässt sich verdrängen: der Ruin, der Verlust des Anwesens, die Beziehungen, vor allem die Heirat mit Alan Gray. Auch er ein Flüchtling vor sich selbst. Er scheitert daran, dass er seine Homosexualität verdrängt, jetzt im tragischen Bewusstsein, dass er niemals eine Endstation seiner Sehnsucht erreichen wird, nimmt er sich das Leben. Diese Zerrissenheit kann Federico Ievoli in tragischer Sensibilität, bei mitunter sogar verschämter Flucht vor sich selbst, tänzerisch so kraftvoll wie feinsinnig gestalten.
Und wenn dann, in einem traurigen Viertel von New Orleans, die Menschen an dieser „Endstation“ ihrer Irrwege fehlgeleiteter Sehnsüchte aufeinander treffen, dann gibt es keinen Ausweg, auch wenn Stella es noch einmal wagt, ihre Sehnsüchte auf den von Patrik Holeček getanzten Mitch, in dem sie Alan Gray zu sehen meint, zu übertragen.
Es spricht für die Tiefe der tänzerischen Interpretation von John Neueier, dass in seiner Sicht, dieser polnische Macho Stanley Kowalski der Stella viel näher ist, als man glauben mag. Er boxt sich durch, das wird von einem polnischen Muskelprotz nicht anders erwartet. Aber dabei ist er, und das macht der Tanz möglich, in totaler körperlicher Schutzlosigkeit, auf der Flucht vor diesem Klischee und begibt sich dennoch in dessen Verstrickungen.
Für Blanche hat er Verachtung, die wächst indem er dennoch eine gewisse Nähe spürt, an der es im Verhältnis zu Blanches Schwester, seiner Frau, völlig fehlt. So kommt es zu jener tänzerisch so erschütternden Szene der brutalen Vergewaltigung Blanches durch Stanley, eben auf jenem armseligen Bett, auf dem dieser Tanz tragischer Fluchten heimatloser Menschen begann.
Aber was hier der Tänzerin und dem Tänzer abverlangt wird, das ist enorm, da ist der verzweifelte Versuch einer missverstandenen Hingabe in Form totaler Unterwerfung bei Blanche, und der ebenso verzweifelte Trieb in die Brutalität eines auf seine Sexualität reduzierten Menschen wie eben Stanley Kowalski. Da gibt es weder Peinlichkeiten noch Klischees, Alina Nanu und Paul Irmatov sind – je auf ihre Weise – von so erschreckender wie berührender Kraft der tänzerischen und der darstellerischen Präsenz. So fügt sich am Ende die Kraft eines Ensembles, dem man sich nicht entziehen kann.
Als risse es ihre Körper auseinander, so bewegen sich die Tänzerinnen und Tänzer. Als würden sie geschlagen, gepeitscht, gejagt, getrieben, verfolgt. Kein Schutz. Nirgends. Als wollten sie der Gewalt widerstehen verfallen sie immer wieder in geschmeidige, zuweilen zärtliche, Bewegungsabläufe, die wie Zitate einstiger Ordnungen und Konventionen wirken. Sequenzen der Erinnerung, jäh durchbrochen von denen der Gewalt und der Erniedrigung. Das ist der Tanz auf des Messers Schneide. Auf die Spitze getrieben, in den Irrsinn der Drehung, in den Sprung, auf die Erde zurück geworfen. Dies alles, dieser ganze Wahnsinn aus Sehnsucht und Vermessenheit, aus Einsamkeit und Promiskuität, aus Traum und Erwachen, aus Leben und Tod, Gewalt und Zärtlichkeit, pocht, schlägt und hämmert zwischen den fiebernd schmerzenden Schläfen jener zerbrechlichen jungen Frau, die da zu Beginn und am Ende mutterseelennackt mit leicht angezogenen Beinen mit der erbärmlichen Habseligkeit ihres verschlissenen Koffers auf der Kante eines Anstaltsbettes im Irrenhaus sitzt.
Und nicht zu vergessen die geniale Auswahl der zugespielten Musik: Im ersten Teil, instrumentiert von Rudolf Barschai für das Moskauer Kammerorchester, „Visions fugitives“ op. 22 – also „Flüchtige Erscheinungen“. Dann, wie Klänge des Widerstandes zerstörerischer Kräfte des unbeherrschbaren Innern, die erste Sinfonie von Alfred Schnittke. Die Einspielung der Uraufführung unter Gennady Rozhdestvensky aus der einstmals geschlossenen Stadt Gorki.
Mit dieser außergewöhnlichen, vom Prager Publikum auch in einer Repertoirevorstellung, nach anfänglicher Beklommenheit, dann euphorisch gefeierten Aufführung, setzt der Prager Ballettdirektor Filip Barankiewicz eine thematische Reihe von Balletten nach literarischen Vorlagen fort. Bislang „Der Prozess“ nach Franz Kafka von Mauro Bigonzetti und „Leonce und Lena“ nach Georg Büchner von Christian Spuck. Fortsetzung erwünscht.
Boris Gruhl