Viele, viele Rollendebüts junger Tänzer im Stuttgarter „Onegin“
Mit einer wahren Debütanten-Flut begann in Stuttgart die Rückkehr zum Normalbetrieb mit vollem Corps de ballet und vollem Orchester: In John Crankos Klassiker „Onegin“ hatte Ballettdirektor Tamas Detrich sage und schreibe zwölf Debüts und zwei Stuttgarter Debüts in nur sieben Vorstellungen gepackt, kulminierend in einer Aufführung mit Neulingen in sämtlichen Hauptrollen, die alle fünf an der hauseigenen Cranko-Schule ausgebildet wurden. Und auch dieser „Onegin“ floss ohne Nervosität oder technische Probleme dahin, mit all den hohen, schwierigen Hebungen, sorgfältig einstudiert in den Motivationen und nuanciert gespielt – vielleicht weil gerade in Stuttgart herangereiften Tänzer das Werk so gut kennen, weil sie die großen Vorbilder wie Sue Jin Kang noch gesehen haben. Ex-Intendant Reid Anderson war für die Einstudierung zuständig, aber natürlich weiß hier auch jeder Ballettmeister bis ins Detail Bescheid und kümmert sich um die vielen jungen Talente, die zum Teil kurz vor der Pandemie in die Kompanie kamen und auf den Sprung zu größeren Rollen warteten.
Tatjanas kleine Schwester Olga ist eine undankbare Rolle, sie wird neben den drei anderen Hauptrollen kaum zu einem eigenen Charakter und bleibt gern im koketten Klischee stecken. Technisch wirbelten alle Debütantinnen locker und leicht durch ihre Pirouetten, das war in Stuttgart nicht immer der Fall. Die agile Veronika Verterich sprühte vor Lebensfreude, ihr neckisches Wesen wirkte natürlich und aufrichtig. Fernanda Lopes baute viele kleine, liebe Details ein und spielte im zweiten Akt sehr offensiv mit der Eifersucht ihres Freundes Lenski. Mackenzie Brown, die unglaublich talentierte Prix-de-Lausanne-Gewinnerin des Jahres 2019, spielte ihre erste Rolle in einem Handlungsballett anfangs noch ein wenig klischeehaft – aber genau wie in den modernen Stilen, in denen sie bisher brillierte, tanzt bei ihr jede Faser des Körpers, Kopf und Arme begleiten jede Bewegung völlig natürlich, ihre Koordination und Phrasierung sind von einer ganz außergewöhnlichen Qualität. Besonders exquisit: der leichte Port de bras mit feinen, geradezu schwebenden Handgelenken.
Während Matteo Miccini seinen Lenski eher nach Vorschrift tanzte und dem Dichter noch wenig persönlichen Züge mitgab, beeindruckte Henrik Erikson, 2018 in die Kompanie gekommen, mit einer sehr eigenen, tiefgründigen Gestaltung der Rolle. Sein Lenski ist ein echter Dichter und Denker, ein feiner, zurückhaltender junger Mann, der über Olgas tänzerischen Seitensprung im zweiten Akt nicht einfach heftig eifersüchtig wird (wie seine spanischen oder südamerikanischen Tänzerkollegen), sondern dessen Weltbild darüber ins Wanken gerät, so tief ist er getroffen. Debütant Gabriel Figueredo, gerademal zwei Jahre in der Kompanie, hat von der Natur den perfekten Körper für einen Danseur Noble mitbekommen und zeigte gleich im ersten Solo Drehungen, die man bei den Pariser Etoiles nicht schöner sieht, so sauber, zentriert und schwerelos ausbalanciert. Durch seine hohen, langen Beine bekommen die Arabesquen eine fast noch schönere Linie als bei Friedemann Vogel, was im Prinzip kaum möglich ist. Keine Frage, hier wächst ein Ausnahmetänzer von Weltniveau heran und dem Stuttgarter Publikum stehen herrliche Zeiten bevor. Im Augenblick allerdings ist der junge Brasilianer noch ein Solitär, will heißen: er muss dringend das Partnern üben. Dramatische Begabung besitzt er, sein Solo vor dem Duell tanzte er beseelt und lyrisch.
Aus Tatjanas Mann Gremin kann man trotz der Kürze seiner Auftritte durchaus einen Charakter machen, was allerdings zu wenige Interpreten überhaupt in Angriff nehmen. Clemens Fröhlich, rein von der Körpergröße ein Fels zum Anlehnen, spielte den Fürsten erstaunlich agil und sehr entschieden in seiner Zuwendung, während Fabio Adorisio ernst und würdevoll blieb. Er gab seiner Partnerin Rocio Aleman festen Halt für ihre enttäuschte Seele, wahrte aber eine gewisse innere Distanz. Umso leichter sollte es bei einer solchen Interpretation Tatjana fallen, ihn zu verlassen, umso herzzerreißender wird ihre Zurückweisung Onegins.
Friedemann Vogel war 2014 der letzte neue Onegin in Stuttgart gewesen, jetzt standen gleich drei Neue auf der Bühne. David Moore gibt dem russischen Müßiggänger eine britische Contenance mit; sein Onegin hat Würde und ein makelloses Benehmen. Der Zynismus brodelt sehr tief unter der Oberfläche, bricht aber dann im zweiten Akt mit bösen Blicken kurz und heftig hervor. Im Schluss-Pas-de-deux bleibt Moore gegen die starke, verzweifelte Tatjana der Anna Osadcenko der schwächere Charakter, bewahrt in seinem Werben um die Geliebte vielleicht einen Hauch zu viel Höflichkeit. Technisch tanzt er fein und flüssig, auch in den Hebungen, aber da stellt ihn Martí Fernández Paixà fast in den Schatten. Denn dieser ungewöhnlich junge Onegin phrasiert seine mühelosen Hebungen auch noch musikalisch, ohne jedes Hauruck geht es leicht hinauf und noch sanfter wieder herunter. Der Spiegel-Pas-de-deux entwickelt bei ihm einen romantischen Schwung, den selbst erfahrenere Tänzer so nicht finden, und schon gar nicht beim Debüt. Schon als Lenski warf Paixà seine Olga hoch durch die Lüfte, nun schwebt die schmale, aber wahrlich nicht kleine Rocio Aleman als Tatjana mit seligem Lächeln durch die hohen Über-Kopf-Lifts des Spiegel-Pas-de-deux.
Paixà ist eigentlich ein eher sonniger Tänzer, da scheint der dunkle Onegin nicht so recht zu ihm zu passen – aber sein Porträt ist durchdacht, jede Regung sensibel ausformuliert. Technisch hat der schwarzhaarige Katalane alles, was man als Stuttgarter Solist braucht: Technik, Musikalität, schöne Sprünge und eine natürliche Darstellung. Dass er auch noch hinreißend aussieht, ist der Gesamtwirkung nicht abträglich. Durch die ersten zwei Akte segelt sein Onegin eher leichtfertig und ein wenig hochnäsig. Mit einem Mal bitterernst wird es in dem Moment, wo Onegin die Pistole aus dem Umhang zieht, im dritten Akt zeigt Paixà den heimatlos Herumirrenden dann als gebrochenen Mann.
Es ist lange her, dass ein Onegin in Stuttgart beim ersten Solo derart ins Trudeln kam wie Roman Novitzky; die Karriere des zuverlässigen Slowaken neigt sich dem Ende zu, er bleibt der Kompanie als Choreograf und als hervorragender Tanzfotograf erhalten. Charakterlich wirkte sein Onegin ein wenig zu versnobt, was es immer schwierig macht, die Wendung zum aufrichtig Liebenden am Schluss noch zu erklären. Wie unendlich wichtig die Erfahrung in dieser Rolle ist, zeigte Jason Reilly, der dienstälteste Stuttgarter Onegin: Seine Interpretation ist dunkler und düsterer geworden, Onegin wirkt hier nicht eitel, sondern tief in sich selbst versunken. In Tatjanas Traum bringt er eine dämonische Note und kann im zweiten Akt unterdrückte Aggressionen kaum beherrschen. Mit Interpreten wie ihm wird das Ballett zum psychologischen Kammerspiel. Seine neue Partnerin war Agnes Su, die Amerikanerin aus Kalifornien wurde nach ihrem Debüt auf offener Bühne zur ersten Solistin ernannt. Auch sie stammt von der Cranko-Schule und war mit ihrer samtig-weichen Bewegungsqualität bislang eher im modernen Fach im Einsatz. Ihr ernstes und ungemein detailreiches Porträt eröffnet ihr nun alle Möglichkeiten im dramatischen Fach. Auf ihrem scheuen Gesicht breitet sich erst mit Onegins erster Hebung ein Lächeln aus, zögernd öffnet sie sich dem neuen Gefühl und umso gravierender ist ihre Enttäuschung über die Zurückweisung. Neben Gremin wirkt sie eher gefasst als glücklich und geht im letzten Bild an ihrem Konflikt fast zugrunde, derart heftig kämpft sie mit ihren Gefühlen. Bei manchen Tatjanas erscheint das Wegschicken Onegins berechtigt und eine gute Lösung; hier sieht man, wie ihr Leben zerbricht.
Rocio Aleman zeichnet das lesende junge Mädchen unschuldig und zeigt vor allem das Erwachen der Liebe, immer heller leuchtet das Glück im Traum-Pas-de-deux auf ihrem Gesicht. In St. Petersburg hat diese Tatjana zu einem inneren Gleichgewicht gefunden, aber ihr Lächeln hat nun eine leichte Melancholie und strahlt nicht mehr. Elisa Badenes ist in ihren vielen Rollen längst die heimliche Primaballerina der Kompanie, aber tatsächlich war auch ihre Tatjana ein Stuttgarter Debüt, bisher tanzte sie die Rolle nur auf Tourneen. Die Spanierin kommt der legendären Ur-Tatjana Marcia Haydée darin gleich, dass auch sie in den Hebungen tanzt: Sie dehnt sich in den Himmel, schmiegt sich um Onegins Körper oder sehnt sich am Schluss gegen ihren Willen zu ihm hin, wie kaum eine andere versteht sie Crankos Dynamik. Mit ihr als leuchtendem Beispiel, mit so vielen jungen Talenten, die den alten Klassikern Respekt und Liebe entgegenbringen, braucht man sich um die Cranko-Tradition keine Sorgen zu machen.
Angela Reinhardt