Kritiken

Eine selbst geschaffene Welt

Goyo Montero schuf mit Hans Hadulla einen Tanzfilm: „Über den Wolf“

„Angst essen Seele auf“, heißt ein berühmter Film des deutschen Regisseurs  Rainer Werner Fassbinder aus dem Jahr 1974. Auch wenn dort völlig anders von sozialer Ausgrenzung Fremder erzählt wird, könnte sein Titel auch Goyo Monteros neueste Schöpfung „Über den Wolf“ kommentieren. Seit 27. Dezember ist das knapp einstündige Werk von Regisseur Hans Hadulla und dem Kamerateam des BR Klassik im digitalen Fundus des Staatstheaters Nürnberg und auf der Webpage des BR Klassik abrufbar, zudem auf Youtube. Doch was ist „Über den Wolf“? Ein Tanzfilm? Eine gefilmte Schauspiel-Performance mit Tanz? Eine getanzte Installation mit  einem großartig monologisierenden Schauspieler? Oder eine ästhetisierte Dokumentation darüber wie Montero und das Ballett des Staatstheater Nürnberg die vergangenen zwölf Monate erlebt und für sich künstlerisch verarbeitet haben? Oder schlicht eine wunderbare neue Tanzpremiere, die wegen Corona nicht sein durfte? – Wahrscheinlich alles. Sechs Wochen sind seit der Online-Premiere vergangen. Knapp 10.000 Klicks verzeichnete das Werk allein über die Seiten, die das Staatstheater betreut, und es ist weiterhin abrufbar. Jederzeit. Szene für Szene. Das neue Erleben von Tanz erfolgt heute zerstückelt. Das liegt aber auch an der ungeheuren Komplexität von „Über den Wolf“ und es führt zum Nachdenken darüber, wie es vor Conora war. Noch vor einem Jahr erlebte man eine Tanzaufführung live und meistens nur einmal und man trug das, was sie in vielleicht neunzig Minuten in einem ausgelöst hatte,  als Nachhall in der eigenen Erinnerung in die jeweils neue Gegenwart. Der Rest, die vielen Details, waren schnell vergessen. Das ist jetzt anders. Das kontinuierliche in Gang setzen des Films verknüpft sich mit der fortdauernden Präsenz der Pandemie. Jedes neue Aufrufen lenkt die Aufmerksamkeit auf ein Detail – mal die Sprache, mal die Atmosphäre, mal den Handlungsfortgang. Für den Tanz, der mal live war und dessen Künstlerinnen und Künstler seit Wochen schon wieder nicht in ihren Beruf ausüben dürfen, ist das eine Schande.

Die Pandemie geisselt weiterhin das Kulturleben Deutschlands. Anstelle der Künstlerinnen und Künstler haben sich die Medien in einen vielstimmigen Chor verwandelt. Tagein, tagaus stimmen sie mit unzähligen Solisten aus allen Teilen der Gesellschaft ein mehrteiliges Gesamtkunstwerk an, in dem Gefahren, Verluste und Chancen zu Hauptmotiven geworden sind.

Über Monate hat Montero wie viele andere seiner Kollegen  sehr wach diesem neuen Massenkonzert zugehört. „Über den Wolf“ ist sein Statement. Sein Spiegel nach außen. Es ist ein dunkler Spiegel, einer, der das Vedrängte zeigt, die Schatten, das Verborgene, das nach außen Projizierte um es selbst nicht sehen zu müssen: den paranoiden Umgang mit der Angst. „Wovor hast Du Angst? Wovor fürchtest Du Dich am meisten?“ fragt er auch sodann zu Beginn des Films während man ihm am Bildschirm hinein in das Opernhaus folgt. Mit ihm die Gänge entlang wandert. Leere Ballettsäle betritt, um sich warm machende Tänzerinnen und Tänzer zu streifen. Später sitzen sie in der Maske, danach fertig für den Auftritt backstage. Der Vorhang hebt sich. Der Blick fällt in das leere Parkett, und mit Montero klettert man weiter bis hoch in den Schnürboden, während seine innere Stimme nie aufhört, weiter davon zu erzählen, wie und warum „Über den Wolf“ in Anlehnung an Prokofjews berühmtes Kinderkonzert  „Peter und der Wolf“ entstanden ist: als Versuch, „Vereinsamung, Angst, Entfremdung und Furcht auszudrücken“; als Möglichkeit von einem Menschen zu erzählen, der leidet. Der Stimmen im Kopf hat. Der nicht mehr bei sich ist. Der alles nach außen wendet, bis es ihm gelingt, „den Wolf“ als jene Welt zu erkennen, die er selbst erschaffen habe. Auf die Pandemie gewendet, wiederholt Montero eine Wahrheit, die er seit seiner wegweisenden „Nussknacker“-Interpretation in seiner Ästhetik als Hauptmotiv etabliert hat: dass wir alle eins und jeder sind und die Freiheit besitzen zu handeln. Mit „Über den Wolf“ verwandelt Montero das Hörstück für Kinder so in Zusammenarbeit mit seinem Team nicht nur in ein sinnlich-packendes Psychodrama, sondern auch in ein zukünftiges Mahnmal, wenn wir einmal auf diese Zeit zurückblicken werden. Es wird sich zeigen, ob sich die dort gezeigte Utopie, die am Schluss zu sehen ist, realisiert haben wird. Die Bühne leuchtet frei und offen. Kraftvoll tanzt das gesamte Ensemble, von oben gefilmt, zusammen, mutig und mit offenem und fröhlichem Gesicht nach vorne laufend.

Motiv von Oliver Schuck

Kammerschauspieler Thomas Nunner liefert in dem zunächst düster und beklemmend startenden Film eine großartige Performance. Atemlos verfolgt man immer wieder in Nahaufnahmen sein Wüten, Säuseln, Sprechen, Schimpfen, Jammern, Beharren und Zaudern. Ohne Pause wechselt er von einer Sprechrolle in die nächste und intoniert so die unterschiedlichsten Erfahrungen, Meinungen, Wünsche, Gefühle und Sehnsüchte, die Montero, der auch das Libretto geschrieben hat, Peter, der Katze, dem Vogel, dem Großvater und der Ente in den Mund gelegt hat. Es sind harte, die Dinge ansprechende Sätze auch über die Wohlstandsgesellschaft, in der die Bedingungen für den Überlebenskampf gegenseitig aufgerechnet werden.

Hinter Nunner oder um ihn verschieben sich permanent Wände, zwischen denen die Prokowjewschen Figuren tanzend auftauchen: Olga Garcia als Peter, Andy Fernandez als Ente, Lucas Axel als Katze Sofie Vervaecke als Vogel und Oscar Alonso als mürrischer, alles Verbietende Großvater. Tanz- und Sprechszenen laufen oft parallel. Dann repräsentiert der Tanz die Sprache und vermag doch, zusätzlich eigene Bilder zu schaffen, die die Sprache wiederum übersteigen. „Über den Wolf“ experimentiert insofern mit den Grenzen der Kunstformen. Großartig ist der inszenierte Raum: ein unwirtlicher klaustrophobischer Niemandsort, an dem  Quader unterschiedliche Räume, Wände und Mauern bilden, bis Peter sie endlich vermag umzustoßen. Manchmal wirken sie auch wie Grabplatten. Den passenden Sound lieferte wie gewohnt der Kanadier Owen Bolten. Hart verkanten sich auch seine metallisch klingenden Klangräume mit den Melodien Prokofjews. Wer es erleben will, klickt HIER.

Alexandra Karabelas