Horst VOLLMER
Das „Königreich der Schatten“ aus Petipas Ballett-Spektakel „La Bayadère“ von 1877 – in Dortmund? Das ikonische Stück Ballettklassik, stilistisch anspruchsvoll, personell herausfordernd, hierzulande bislang nur bei den Staatsballetten in München und Berlin, beim Hamburger und Stuttgarter Ballett und in Dresden zu sehen (gewesen) – bei dem „mittelgroßen“ Dortmunder Ensemble? In der Tat: In Dortmund! Und mehr noch: In der Metropole des östlichen Ruhrgebiets stellt man sich nicht nur der Herausforderung des „Schatten“-Akts, sondern bringt gar eine vollständige „La Bayadère“ – vier Akte, zwei Pausen, drei Stunden – auf die Bühne.
2024/25 ist Xin Peng Wangs letzte Saison in Dortmund. Seit 2003 Direktor, seit 2020 Intendant des Balletts, hat er Dortmund eine bemerkenswerte Erfolgsgeschichte in Sachen Tanz beschert. An dieser Erfolgsgeschichte hat Tobias Ehinger, ausgebildeter Tänzer, der 2004, 25 Jahre alt, Ballettmanager unter Wang wurde, kräftig mitgeschrieben. Heute nun liegt man vermutlich nicht ganz falsch in der Annahme, dass es Ehinger, seit 2017 als Geschäftsführender Direktor Leiter des Dortmunder Theaters, ein Anliegen war, seinem scheidenden Ballettchef einen Wunsch zu erfüllen: den Wunsch, eine eigene Version von „La Bayadère“ zu schaffen.
„La Bayadère“, wie Petipa sie in St. Petersburg hinterlassen hat und sie ergänzt wurde durch Hinzuerfindungen und Umstellungen der Sachwalter seines Erbes, enthält manche choreographische Preziose – doch in Libretto, Handlung, Dramaturgie und Gestaltung auch manches, das uns heute zwar aus tanz-, theater- und kulturhistorischen Gründen interessiert, aber ansonsten kopfschütteln macht. Die Geschichte des Originals führt in ein fantasiertes Alt-Indien, in dem eine „einfache“ Tempeltänzerin und ihre hochgestellte Rivalin um denselben Mann konkurrieren, die eine die andere zu erdolchen versucht, um ihrerseits einem Mordanschlag durch Schlangenbiss zum Opfer zu fallen, während ein Priester unziemlichen erotischen Obsessionen nachgibt und eine Hochzeitsfeier im spektakulären Einsturz eines Tempels endet – und die Liebenden nur im Traum zueinanderfinden.
Eine solche Geschichte, so nah dem damaligen Zeitgeschmack wie sie dem heutigen fern ist, lässt sich eigentlich nur so oder so erzählen: Entweder in der Tradition des Originals – oder ganz anders. Im deutschsprachigen Raum wurde „La Bayadère“ erstmals 1998 inszeniert, sage und schreibe 121 Jahre nach der Premiere im St. Petersburger Bolschoi-Theater (in dem das zaristische Ballett residierte, bevor es ins Marien-Theater umzog), und alle bisherigen Produktionen hier folgten dem Original, ob von Patrice Bart 1998 in München oder von Vladimir Malakhov 1999 in Wien (und später Berlin), ob von Natalia Makarova, die 2002 in Hamburg ihre Fassung von 1980 einstudierte, ob von Aaron Watkin 2008 in Dresden oder zuletzt 2018 von Alexei Ratmansky wiederum in Berlin. Xin Peng Wang in Dortmund ist nun der erste hierzulande, der die Geschichte „ganz anders“ erzählt. Obwohl: Ihm gelingt dabei das Kunststück, sie zugleich auch in der Tradition des Originals zu inszenieren.
Anna Tsygankova (Nikija )und Giorgi Potskhishvili (Solor) © Leszek Januszewski
Wangs Kniff ist ein Rückgriff auf Hollywoods Stummfilmzeit. Gern wüsste man, ob er diesen Kniff womöglich erdachte, als er in Kenneth Angers Skandalchronik „Hollywood Babylon“ schmökerte, oder ob es die Berichte über den Machtmissbrauch des Hollywood-Produzenten Harvey Weinstein waren, in denen er Parallelen zur Geschichte in „La Bayadère“ erkannte, die schließlich auch eine Geschichte von Macht und Ohnmacht, Erotik und toxischer Männlichkeit ist. Jedenfalls soll in Wangs Fassung in Hollywoods Stummfilmjahren „La Bayadère“, das Ballett, gefilmt werden – und dann spiegeln sich die Rollen und Ereignisse des Balletts in den Personen, die das Ballett inszenieren, aufführen und filmen, sowie in deren Handlungen und Beziehungen untereinander.
Wang überblendet die Ebenen des Balletts, des Films und des Lebens der Ballett- und Filmleute – und das funktioniert erstaunlich gut. Ein Regisseur (pantomimisch ausladend dargestellt von Guillem Rojo i Gallego), zugleich Vater der Darstellerin der Gamzatti (Daria Suzi), wird eins mit Petipas Radscha. Der Brahmane des Originals wird zu einem Filmproduzenten (ebenfalls pantomimisch: Cyril Pierre), der den Filmstar in der Rolle der Nikija begehrt. In die Nikija-Darstellerin wiederum verliebt sich der Darsteller des Solor, den aber der Regisseur mit seiner Tochter zu verbandeln trachtet. Und so, wie Wang Bühnenfiguren und „echte“ Personen überblendet, so überblendet er Szenen des historischen Balletts mit Szenen am Filmset: Unter tanzenden Kameraleuten, Beleuchtern und Kabelträgern wechseln die Filmstars hin und her zwischen ihren „Bayadère“-Rollen und ihrem Leben außerhalb des Lichts der Filmscheinwerfer. Das erlaubt es Wang, einerseits die choreographischen Schmuckstücke der traditionellen „La Bayadère“, à la Petipa kostümiert und ausgestattet, und zugleich eine „moderne“ Rahmenhandlung zu inszenieren, die unserem Heute näher ist.
Freilich: Wer heute Petipas komplette „Bayadère“ auf die Bühne bringt, tut es nicht archetypischer Gefühlswerte wegen, die dem Werk in noch immer publikumswirksamer Weise innewohnten (im Gegenteil: solche fehlen ihm nahezu ganz). Kern- und Angelpunkt einer vollständigen Inszenierung des Klassikers ist heutzutage vielmehr der „Schatten“-Akt. Als „La Bayadère“ ab 1958 diesseits des damaligen Eisernen Vorhangs nach und nach bekannt(er) wurde, verblüfften und faszinierten Stil, Choreographie, Inszenierung und Musik des „Königreichs der Schatten“ das Publikum – und tun es weiterhin so sehr, dass klassische Ensembles, die auf sich halten, denen die vieraktige „Bayadère“ aber der Mühe nicht wert oder der Mühe zu viel erscheint, zumindest gelegentlich den „Schatten“-Akt aufführen (wie hierzulande zuletzt 2018 Stuttgart in Makarovas Einstudierung).
In Petipas „Schatten“-Akt von 1877, „weiß“ und von allen Handlungselementen befreit, erkennen wir heute die Anfänge dessen, was später als „abstraktes“ Ballett zur Gattung wurde, sehen von der mit Mitteln der Einfachheit und Wiederholung „gebauten“ Eingangssequenz bis zum Ende des Divertissements Verbindungslinien zum Stil und zu den Tutti-Sequenzen in Balanchines klassischeren Choreographien für große Ensembles, sehen und (in Minkus Musik) hören gar Minimal Dance und Minimal Music fast ein Jahrhundert vor ihrer Erfindung.
Ensemble © Leszek Januszewski
So sehr in Xin Peng Wangs eigener Version von „La Bayadère“ das Eigene dominiert – der „Schatten“-Akt, dieses Juwel der Tanzgeschichte, ist auch bei ihm Kern- und Angelpunkt der Inszenierung – und in Dortmund stellt man sich der anspruchsvollen Aufgabe in höchst achtbarer Weise. Nicht nur füllen 24 Gruppen- und drei Solo-„Schatten“ die Bühne – sie zeigen sich auch den technischen und künstlerischen Herausforderungen gewachsen, in der langen Folge vielfach wiederholter, stets gleicher Arabesques penchées zu Beginn ebenso wie in der erfüllten Vermittlung des klassisch-akademischen Stils Petipas.
Das Theater Dortmund hat offensichtlich von langer Hand geplant, budgetiert und geprobt, um seinem Noch-Ballettdirektor den Wunsch einer „La Bayadère“-Inszenierung zu erfüllen. Es leistet sich Jérôme Kaplan für ein attraktives Bühnenbild und insgesamt eine Ausstattung, die in einem Vergleich mit aufwendigeren „Bayadère“-Produktionen allemal einen Achtungserfolg erzielt. Es nutzt für den Petipa-Teil der Produktion die Petipa- und „Bayadère“-Erfahrungen, die seine Ballettmeister Cyril Pierre als Solist des Bayerischen Staatsballetts und Daria Sukhorukova ebendort und zuvor am Marien-Theater sammelten.
Vor allem aber: Es tanzen nicht nur die 22 Mitglieder des Balletts Dortmund, sondern auch die sechs Damen und sechs Herren des (beim Ballett Dortmund angesiedelten) Juniorballetts Nordrhein-Westfalens sowie 13 Gäste (alles Damen) und eine Stipendiatin – und in den ersten Vorstellungen Anna Tsygankova und Giorgi Potskhishvili vom Niederländischen Nationalballett in den führenden Rollen als Filmstars, die zugleich Nikija und Solor darstellen, sie technisch, stilistisch und mimisch stark, er ein Hingucker nicht nur, wenn er seine abenteuerlich hohen und weiten Sprünge, seine atemberaubenden Drehungen in der Luft und verblüffenden Landungen zeigt. Sie alle machen die Dortmunder „La Bayadère“ zu einem respektablen Abschiedsgeschenk an Xin Peng Wang – und an das Publikum in Dortmund und weit darüber hinaus.
Ballett Dortmund: „La Bayadère“, Choreographie: Xin Peng Wang, 2. und 3. Akt nach Marius Petipa, Musik: Leon Minkus. Premiere am 1. November 2024, Opernhaus Dortmund. Gesehene Vorstellung: 9. November 2024. Weitere Vorstellungen bis 19. Juni 2025.
www.theaterdo.de