Heisst heutzutage ein Tanzabend „Rebellen“, horcht man unwillkürlich auf – schließlich ist „Greta“ überall und Stéphane Hessels essayistischer Weckruf „Empört Euch!“ aus dem Jahr 2010 trägt derzeit, wie es auf den Strassen und in den Medien aussieht, Früchte. Doch wer wird zum Rebell? Und verwandelt sich jeder Rebell in einen Helden? Wird ein Rebell kein Held, bleibt er entweder sich selbst treu oder aber er steckt in etwas fest – die ewigen Rebellen interessiert irgendwann keinen mehr. So oder ähnlich lauten die Gedanken, in die einen der neue, hier viel zu spät besprochene Giessener Tanzabend derzeit hineinführt. Dieser nennt sich „Rebellen“ und die Besinnung darauf, dass in der Tanzwelt seit einigen Jahren zuerst Abende zum „Helden“-Thema aufgetaucht sind, weitet den Blick – ganz abgesehen von den vielen Helden und Rebellen in der medial-globalen Öffentlichkeit, bei denen man fast den Überblick verliert.
Dieses Kosmos gewahr, stellt man sich schmunzelnd vor, welche Freude Tarek Assam gehabt haben muss, als er in seinen gelungenen Beitrag zum Abend unter dem Titel „We Are“ einen General in Mütze, Uniformjacke, Stiefeln und Boxershorts und eine ihn ruhig und souverän beparlierende Politikerin im Hosenanzug eingeführt hat. Der sich kraftvoll aufstellende Zampano und das kluge Mädchen sitzen, wir sprechen vom Schluss des Stückes, auf den zuvor von ihnen von Plastik befreiten Kinosesseln auf der Bühne hinten und tauschen sich aus, während vorne das Ensemble aus braunen Ökotüten kleine Pflanzen herausholt und in einer Reihe aufstellt. Es macht die Qualität von Assams Stück aus, erst zum Schluss in dieses sehr konkrete Bild einzusteigen, damit die aktuellen Protestbewegungen und Machtverhältnisse abzubilden und zuvor sehr abstrakt agiert zu haben. Seine Uraufführung zu Steve Reichs erstem Satz der gleichnamigen Komposition „We Are“ wird damit zu einer lesenswerten Chiffre über das Wesen des Vorgangs aktueller Rebellion, die sich langsam entwickelt, sich aufstaut, sich Luft macht, Entschlüsse fasst, dann achtsam praktiziert wird. Assam wählte hierfür eine reduzierte, minimalistisch vorgetragene, vielteilige Bewegungssprache. Die Gruppe agiert prägnant, teilt sich, sammelt sich. Einer löst sich, ein paar, dann sind alle wieder zusammen. Sie tragen weißen, viel Haut zeigenden, androgynen Schlabberlook mit schwarze Mützen und Schals, die sich ewig lang dehnen – ein feines Mittel, um den Drang sich zu äußern mit der Erfahrung, begrenzt zu sein, kurzzuschließen. Sie könnten „Alle“ sein: Diejenigen, die sich nicht trauen; die Belegschaften; die nicht dazugehören – wer auch immer, jedenfalls nicht die, die auf den Kinosesseln sitzen. Tipp an die Politiker*innen: Man könnte „We Are“zur Eröffnung eines Klimagipfels präsentieren.
Hierfür weniger geeignet, aber genauso stark und beeindruckend kommt Asun Noales´ Erarbeitung ihres Stückes „Subversive“ um die Ecke. Es folgt der berühmten Skandalmusik „Sacre du Printemps“ von Igor Strawinsky – auch er seinerzeit kurz vor dem Ersten Weltkrieg ein Rebell in der Musik. Noales schert sich null um die Aufführungsgeschichte des „Sacre“ und auch nicht um das Tanzerbe, das seit Pina Bauschs legendärer Interpretation mit „Sacre“ verbunden ist.
Die Spanierin vertraut auf die Musik, deren sich in das Gehirn brennenden Rhythmen, die geheimnisvollen Melodien, kontrastreichen Wechseln und vor allem deren starke Energien. Durchgehend agiert das in lockere Shirts und Shorts gekleidete Ensemble als Gruppe, und ähnlich wie in „We are“, ergeben sich Konstellationen, in denen sich einer aus der Gruppe herausschält, aber dann wieder in sie zurückfindet. Sich derart konsequent auf das musikalische Werk einzulassen und es vor allem auch energetisch durch den Kollektivkörper des Ensembles fließen und zu Bewegungen formen zu lassen oder auch: es in Bewegung sprechen zu lassen, ohne dass in Worten gesagt werden könnte, dass irgendetwas erzählt werden würde, das ist mutig und stark.
Das Werk entwickelt einen grandiosen Sog. Es nutzt Tanz in seinem einzigartigen Potenzial jenseits der Worte zu wirken: unsagbar und ohne Bedeutung. Umso stärker bleibt es im Gedächtnis des Zuschauers als Erfahrung haften. Nur zum Schluss röhrt Caitlin-Rae Crook, von allen umringt, einen Laut aus sich heraus.
Fast aus dem Rahmen fiel vor diesem Hintergrund Jörg Mannes Neukreation zum Musik von Dimitri Schostakowitsch. Sie trug den Titel „Euer Traum“ und brachte das Ensemble des Stadttheater Giessen in Kontakt mit dem neoklassischen, psychologisch grundierten Erzählballett. Mannes verlagerte das Thema der Rebellion ins Private, indem er sich von der Lebensgeschichte des russischen Dichters und Revolutionärs Wladimir Majakowski und dessen Verhältnis mit der Frau seines Verlegers Ossip Brik inspirieren ließ. Majakowski wählte zum Schluss den Suizid. Anders gesagt: Die verborgene Kehrseite jeder Rebellion ist der Schmerz. Es war Mannes, der diesen Aspekt an jenem Abend aufzeigte.
Alexandra Karabelas