Damian Gmür, Iglesias Rodriguez, Foto Sabine Haymann
Kritiken

Die Berührung der Unberührbaren

Premiere „Changes“ mit Uraufführungen von Damian Gmür („45“) und Odbayar Batsuuri („Falling Faces“)

Es sind ungewohnte, lang nicht gehörte Geräusche im großen Saal des Stadttheaters. Die Klatscher werden aber gleich wieder unterbunden. Applausverbot. Das Corona-Virus könnte ja geweckt werden. Das wäre schade, dringen doch die ersten zarten Kulturtriebe aus dem dichten Deckel des Lockdowns. Also Vorhang auf, Mundschutz runter. Für „Changes“ – gegliedert in zwei Teile. Einmal ist es die Kooperation mit der Palucca Hochschule Tanz Dresden, die den Absolvent Odbayar Batsuuri mit seiner Choreografie-Abschlussarbeit „Falling Faces“ auf die Pforzheimer Bühne spült. Zum anderen ist es der stellvertretende Ballettchef Damian Gmür aus dem eigenen Haus mit seinem dritten Stück „45“.

Changes also – die Dinge ändern sich. Auch das Ballett in Pforzheim. Sowieso und ständig. Gerade jetzt. Es passt sich an, „mutiert“ wie das Virus. Muss es auch. Die von Damian Gmür schon vor Corona zum Thema gemachte „Schutzzone“ eines jeden einzelnen Menschen – die besagten, wissenschaftlich erwiesenen 45 Zentimeter – bekommen eine ganz neue Bedeutung. Und sie muss auch neu reflektiert werden in Corona-Zeiten.

Es geht los – mit 99 Zuschauern im großen Saal des Pforzheimer Theaterhauses. Ungewohnte Geräusche bohren sich zunächst in die Ohrmuscheln, erschüttern das Trommelfell, versetzen in Alarmstimmung. Erster Akt: Der aus der Mongolei stammende Odbayar Batsuuri startet seine Choreografie „Falling Faces“ mit Schlägen wie die einer Kirchturmuhr. Und mit Dunkelheit. Hat die letzte Stunde geschlagen? Ist der Weltuntergang nahe? Schemenhaft erst und nachher im gleißenden Licht agierend wird eine Gruppe sichtbar. Ein Trupp Maler mit lockeren Arbeitshosen, bunten Hemden? Uniform, gleichförmig wirkt das. Erst nach einigen zwischen fließend und stockend changierenden Bewegungsabläufen schälen sich Individuen heraus. Individuen, die mit ihren Händen ihr Gesicht verbergen, Alltägliches tun wie „Auto Fahren“, die immer wieder auch ihr Gesicht gewaltsam mit den Händen zum Hinschauen zwingen. Zur Kamera, in die Kamera, denn mit seiner Abschlussarbeit hat Odbayar Batsuuri die moderne Technologie der Gesichtserkennung in Tanz übersetzt. Der Mensch ist bei ihm Objekt, er wird bei ihm von der Technik aufgesaugt. Das sieht dann so aus: Mechanisch, abgehackt – roboterhaft agierende Körper, die sich auch wie ein Uhrwerk auspendeln, um dann im Zahnrad des Rhythmus einzurasten. Manchmal wie in Schockstarre eingefroren.

Changes, Damian Gmür, Brissot Emery. Foto Sabine Haymann

Ein letzter Funke Mensch steckt noch in ihnen, emotionale Überbleibsel: Sie schieben weg, wehren ab, weichen aus, ducken sich, rennen auf der Stelle, strecken sich nach oben. Wie Ballettreferentin Alexandra Karabelas in der „Putz- und Desinfektionspause“ erklärt hat der nicht einmal 30-jährige Odbayar Batsuuri die technische Umwälzung zum Anlass genommen, um auszuloten, wie Menschen auf die Technik der Gesichtserkennung reagieren.

Der Schweizer Damian Gmür wiederum, seit ein paar Jahren in Pforzheim, hat sich schon vor Corona am Stadttheater mit der persönlichen Schutzzone eines Menschen beschäftigt. Es sind 45 Zentimeter.  Diese hätte er vor der Pandemie sicher in entsprechenden Paar- oder Gruppensequenzen verdeutlichen können. Jetzt bleibt das auf wenige Tanzpaare beschränkt, die aus einem Haushalt kommen. Flankiert von auf ihrem „Quadrat“ eingesperrten „Unberührbaren“ bekommt deren Nähe eine ganz andere, weitreichendere Bedeutung. Aber die Nähe hat ihren Preis: Verzweifelt umarmen sich die Beiden, zerren aneinander, halten sich, lehnen sich an, aber nach der ersten Euphorie werden auch erste aggressive Anzeichen einer Hackordnung sichtbar. Es sind poetische Bilder, die entstehen. Ausdrucksstarke. Auch deshalb, weil mehr Raum um die Tänzer deren Tanz schärfer, klarer sichtbar macht. Es ist aber nicht so, dass sich die im Stroboskop-Blitzlichtgewitter rollenden, springenden, kauernden, fließenden Tänzer und Tänzerinnen, deren Bewegungen auf ihrem „Feld“ verdichtet wirken, sie zu Solisten auf ihrer eigenen Bühne des Quadrats machen, abschotten. Knie knicken ein, kraftvolle Sprünge und Drehungen bilden einen Kontrast zu ängstlich wirkenden, kauernden, rätselnden Gesten.

Damian Gmür, Covi Hyeon Woo, Foto Sabine Haymann

Es ist der dumpfe, endlos wirkende Elektro-Rhythmus, dem das Quartett zwar immer wieder mit individueller Kraft etwas entgegen setzt, dessen Sog sie sich dann aber doch nicht entziehen können. Wie umfallende Dominosteine geben sie diesen – manchmal wie Störche durch Morast stakend – weiter, sind ihm am Ende synchron unterworfen. Ein Fluss des Rhythmus, der alles niederreißt, wie Alexandra Karabelas ausführt. Die Tänzer und Tänzerinnen sind in ihrem Alleinsein dann doch wieder verbunden, sich im Rhythmus berührend. Berührung ohne Berührung. Manchmal wie in Trance.

Der Abend zeigt auch die geistige Beweglichkeit des Trainingsleiters Damian Gmür. Zwei gleich ablaufende Choreografien sind es in „45“, zur in modernen, düsteren Klängen eingebetteter Melodie „Zu Bethlehem geboren“ windet sich der Heiland, der Welterlöser aus dem Dunkel. Um letztlich auf seinem klar definierten Lichtquader zu landen, dessen Grenzen sich nur im Dunkel oder Lichtblitzen auflösen, während sich im Vordergrund ein Paar ineinander verknäult, sich verzweifelt aneinander festkrallt.

Der Vorhang fällt. Klopfen auf Holz. Standing Ovation mit Luft-Klatschen. Die Geste zählt. Und sie ist unmaskiert. Freude pur. Auf dem ganzen Gesicht zu sehen.

Susanne Roth